Unberührte Natur und Wohlfahrtsstaat, Neutralität und humanitäre Außenpolitik: Dass man mit Skandinavien nun wirklich alles andere assoziiert als Antisemitismus, weiß Manfred Gerstenfeld nur zu gut. Die fünf nordischen Staaten Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island, schreibt der Jerusalemer Antisemitismusforscher, würden allgemein als »Bollwerk der Demokratie« wahrgenommen. In Rankings wie dem »Global Peace Index« finden sich diese Staaten regelmäßig auf den vorderen Plätzen. Antisemitismus – und zudem noch vonseiten der Regierungen? Etwa in Schweden, wohin viele Juden während der Schoa flüchteten? Eigentlich doch eher ein marginales Thema. Oder?
Auf der Landkarte der meisten Antisemitismusforscher stellte die Region bislang tatsächlich weitgehend einen weißen Fleck dar. Zu einem genaueren Bild beizutragen, ist das Anliegen des von Gerstenfeld herausgegebenen Bandes Behind the Humanitarian Mask: The Nordic Countries, Israel and the Jews. Der Forscher zeichnet dabei nicht etwa einen Antisemitismus nach, der von rechten Parteien wie der fremdenfeindlichen Dansk Folkeparti in Dänemark oder der rechtspopulistischen norwegischen Fremskrittspartiet kultiviert wird. Sondern er porträtiert ein Ressentiment, das, so seine These, gerade in der Mitte der traditionellen skandinavischen Sozialdemokratie tief verwurzelt ist – und das besonders in jüngster Zeit immer wieder als Israelfeindlichkeit virulent wird.
israelboykott In Norwegen wurde die Israel-Boykott-Bewegung vor drei Jahren von der amtierenden Finanzministerin und Vize-Ministerpräsidentin Kristin Halvorsen mitinitiiert, einer Sozialdemokratin. Dänische und norwegische Gewerkschaften zählten im Jahr 2002 europaweit zu den Ersten, die zu diesem Boykott aufriefen. Als jedoch die EU vor drei Jahren offiziell den diplomatischen Kontakt zur neuen Hamas-Regierung boykottierte, stellten Schweden und Norwegen deren Mitgliedern demonstrativ Einreisevisa aus. Und der norwegische Vize-Außenminister reiste als einer der ersten westlichen Politiker überhaupt zu einem offiziellen Amtsbesuch nach Gasa.
humanitärer rassismus Sehr anschaulich, in beinahe journalistischem Stil, analysiert Gerstenfeld, was er in Anlehnung an die niederländische Autorin Ayaan Hirsi Ali »humanitären Rassismus« nennt: eine politische Einstellung, die nur Europäer und Hellhäutige für ihre Handlungen voll verantwortlich macht, während sie Angehörige anderer Ethnien unter Hinweis auf deren Kultur ausdrücklich an niedrigeren Maßstäben misst. Als Beispiel für diese Tendenz nennt der Autor die Diskussion um den Friedensnobelpreis, der 1994 an Jitzhak Rabin, Schimon Peres und Yassir Arafat verliehen wurde. 2002 machten mehrere Mitglieder des Nobelpreiskomitees ihre Enttäuschung über Schimon Peres öffentlich. Ein Mitglied äußerte gar Bedauern, dass es nicht möglich sei, Peres den Preis wieder abzuerkennen, obwohl dieser doch im Begriff sei, Kriegsverbrechen zu begehen. Zu Yassir Arafat: kein Wort.
Die Analyse Gerstenfelds wird ergänzt durch eine Reihe kürzerer Texte von Wissenschaftlern vornehmlich aus den beschriebenen Staaten. Daneben sticht vor allem ein Beitrag von Efraim Zuroff hervor. Der Historiker ist derzeit der oberste Nazijäger des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. In seinem Beitrag legt er dar, weshalb Schweden für seine Bemühungen um eine Verurteilung von NS-Verbrechern jahrelang die Note »ungenügend« erhielt. Inzwischen hat die schwe- dische Regierung immerhin angekündigt, Gesetzesänderungen auf den Weg zu bringen, um die juristischen Blockaden zu beseitigen. Der Beitrag Zuroffs passt gut in diesen Band, der vor allem handfeste Regierungspolitik in Europas hohem Norden analysiert. Und der damit – in dieser Vollständigkeit – ein Stück wissenschaftlicher Pionierarbeit leistet. Ron Steinke