Im Vorfeld hatte es schon viel Aufregung um die diesjährige Rede des irischen Staatspräsidenten Michael D. Higgins anässlich des Holocaust-Gedenktags in Dublin gegeben. Der 83-Jährige möge nicht sprechen, hatten zahlreiche Vertreter der jüdischen Gemeinschaft zuletzt fast flehentlich gebeten.
Doch Higgins kam trotzdem ins Dubliner Mansion House und hielt wie vorgesehen die Hauptansprache zum Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vor 80 Jahren.
Und er beließ es nicht dabei, an den Massenmord der Nationalsozialisten an sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs zu erinnern; er kam auch auf die Lage in Nahost zu sprechen. Man lebe in Zeiten, in denen es akzeptabel erscheine, den Hass auf andere als rhetorisches Stilmittel einzusetzen und so »die Flammen der Intoleranz und des Fanatismus zu schüren und Unterschiede als Quelle der Angst zu fördern«, sagte er.
Dann zog er Parallelen zur aktuellen Lage in Gaza und sprach von einem »längst überfälligen Waffenstillstand« dort. Alle Geiseln der Hamas müssten jetzt freigelassen werden und »alle Phasen des Waffenstillstands« umgesetzt.
Dann folgte eine indirekte Kritik an Israels Vorgehen in der Küstenenklave: »Die Trauer, die den Familien durch die schrecklichen Ereignisse vom 7. Oktober und die Reaktion darauf zugefügt wurde, ist unvorstellbar – der Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die meisten davon Frauen und Kinder, ihre Vertreibung, der Verlust von Häusern, der lebensnotwendigen Einrichtungen. Wie kann die Welt weiterhin auf die leeren Schüsseln der Hungernden schauen?«
Das aktuelle Abkommen müsse dem Töten ein Ende setzen, aber auch dringend »die massive Aufstockung der humanitären Hilfe liefern, die dringend benötigt wird, um mehr Leben zu retten.«
Es habe bislang zu wenig Engagement der internationalen Gemeinschaft gegeben, um zu Frieden in Gaza zu kommen - ein Frieden, der »Sicherheit für Israel und Palästina und die Region« bedeute, die »Wurzel für den Konflikt« beseitige und auf einer »Einhaltung der Menschenrechte« basiere, kritisierte er.
Während er diese Worte aussprach, verließen einige Personen den Raum. Eine israelische Frau, die am University College Dublin promoviert und dort auch Kurse über Nazi-Deutschland, die Schoa und moderne europäische Geschichte unterrichtet, wurde von Ordnern aus dem Saal geführt – angeblich, weil sie Higgins aus Protest gegen seine Bemerkung den Rücken zugewandt hatte.
Sie sagte der in Dublin erscheinenden Tageszeitung »Irish Times«: »Ich hatte nie ein Problem mit irischen Menschen oder der irischen Regierung. Wir haben hier zwei kleine Kinder. Ich unterrichte auch am UCD, aber die letzten 15 Monate waren hier unerträglich. Wir haben das Gefühl, gegen eine Wand zu reden, wenn wir über Antisemitismus sprechen. Es ist wirklich entmutigend für uns zu sehen, dass uns niemand eine Stimme gibt.«
Auch die beiden letzten in Irland lebenden Zeitzeugen des Holocaust, Tomi Reichental und Suzi Diamond, waren bei der Gedenkfeier dabei. Higgins dankte ihnen für ihr Kommen und sagte, ihre Anwesenheit sei eine Ehre. Reichental, ein Überlebender des Lagers Bergen-Belsen, hatte Higgins im Vorfeld gebeten, das Gedenken nicht zu politisieren – offenbar vergeblich.
Nach der Veranstaltung hagelte es Kritik am greisen Staatsoberhaupt. Der Vorsitzende der kleinen jüdischen Gemeinde in Irland, Maurice Cohen, sagte dieser Zeitung, er sei »zutiefst enttäuscht, dass Holocaust Education Ireland, die die Veranstaltung organisiert haben, die Bedenken der irisch-jüdischen Gemeinde nicht berücksichtigt haben.« Das Ergebnis, einschließlich der Rede des Präsidenten, sei »völlig vorhersehbar« gewesen, so Cohen.
Er nannte es »beunruhigend und ärgerlich, das Video einer jungen Frau zu sehen, die ich persönlich kenne und die anscheinend von Sicherheitskräften angegriffen wurde, während sie ruhig und friedlich dastand.«
Cohen, der in Auschwitz-Birkenau an den Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Nazi-Vernichtungslagers teilnahm und selbst nicht in Dublin bei der Gedenkfeier war, kündigte an, mit dem ebenfalls anwesenden irischen Premierminister Micheál Martin das Thema anzusprechen.
Scharfe Kritik am Staatsoberhaupt kam auch vom Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER), Rabbiner Pinchas Goldschmidt. Der irische Staatspräsident habe die Feier dazu missbraucht, Israels Krieg mit der Hamas und den Holocaust gleichzusetzen. »Dieser beleidigende Vergleich ignoriert nicht nur die Neutralität Irlands im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Realität«, schrieb Goldschmidt auf der Plattform X. Echte Führungspersönlichkeiten würden Antisemitismus bekämpfen, anstatt ihn anzufachen, so der CER-Präsident und Träger des Aachener Karlspreises 2024.
Israels Außenminister Gideon Sa’ar, der Higgins schon in den letzten Wochen massiv kritisiert hatte, wurde noch deutlicher. »Selbst am Internationalen Holocaust-Gedenktag hat es der irische Präsident Michael Higgins nicht geschafft, über sich selbst hinauszuwachsen, und hat eine billige und abscheuliche Provokation verwendet.«
Obwohl der »größte mörderische Angriff auf Juden seit dem Holocaust aus dem dschihadistischen Gazastreifen« gekommen sei, habe der irische Präsident »die falsche antisemitische Propaganda der Hamas« nachgeplappert. »Was für eine verachtenswerte Person«, schimpfte Sa’ar.
Und auch der Gründer von Holocaust Awareness Ireland (HAI), Oliver Sears, zeigte sich »zutiefst enttäuscht« vom Präsidenten. Das Pikante: HAI ist Veranstalter der alljährlichen Gedenkfeier.
Es dürfte die letzte Rede von Higgins zum Holocaust-Gedenken gewesen sein. Im Oktober wählt Irland einen Nachfolger für den sehr populären Präsidenten. Higgins, der seit 2011 amtiert, darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten.