Israel

Eiszeit

von Sabine Brandes

Mit zittrigen Fingern füllt Doktor Leibowicz die Rezepte aus, schreibt Überweisungen per Hand. Der Computer funktioniert nicht, auch die Klimaanlage ist aus-
gefallen. Seine Patienten im medizinischen Zentrum Kupat Cholim von Pardes Hanna empfängt er in Daunenjacke mit einer Entschuldigung auf den Lippen: »Slicha – tut mir Leid, das System ist überlastet, Stromausfall.« Das Wartezimmer ist voll, es hüstelt und schnieft aus jeder Ecke. Erkältungen und grippale Infekte verschonen kaum jemanden in diesen Tagen. Es herrscht eine ungewöhnliche Kälte, Mi-
nusgrade haben das ganze Land im eiskalten Griff, Handschuhe, Schals und Mützen sind heiß begehrte Ware.
Derart kaltes Wetter mit trockener, klarer Luft ist außergewöhnlich für den israelischen Winter, außer im hohen Norden sinkt das Quecksilber selten unter Null. Tagsüber liegen die Temperaturen normalerweise zwischen zehn und achtzehn Grad, oft ist es feucht und regnet. Vergleichbare Temperaturen wurden das letzte Mal vor zehn Jahren gemessen. In der vergangenen Woche zeigten die Thermometer ein Rekordtief von minus 9 Grad im westlichen Galiläa, in Netanja an der Mit-
telmeerküste waren es in derselben Nacht minus 3 Grad. Schon fünf Menschen sind der Eiseskälte zum Opfer gefallen, drei Obdachlose im Zentrum, eine alte Frau in Beer Schewa und ein beduinisches Mädchen in der Negevwüste. Sie alle starben an Unterkühlung. Zahlreiche Menschen, darunter ein zehnjähriger Junge und ein vier Monate altes Baby, wurden mit zu niedrigen Körpertemperaturen ins Krankenhaus eingeliefert, in nahezu sämtlichen Fällen waren die Wohnungen nicht geheizt.
Außer in Jerusalem verfügen nur die wenigsten Gebäude über Zentralheizung, noch nicht einmal in nördlichen Gefilden ist es Standard. Geheizt wird in den wenig isolierten Häusern vorwiegend mit Klima-
anlagen, Radiatoren oder Gasöfen. Die sind nicht nur gierige Stromfresser, sondern teils lebensgefährlich. Letztere saugen den Sauerstoff aus der Luft, besonders in kleinen, ungelüfteten Räumen herrscht schnell Erstickungsgefahr. Rund um die Uhr laufen derzeit Radio- und Fernsehspots, die den Menschen erklären, wie man am besten mit dem ungewöhnlichen Wetter umgeht, ohne Schaden zu nehmen.
Die Tel Aviver Stadtverwaltung bemüht sich, Obdachlose in vorübergehende Nachtquartiere zu verweisen, um sie vor dem Erfrieren zu schützen. Seev Friedman, Leiter der Sozialabteilung, berichtet, dass seine Stadt die Unterkünfte schon vor der Kältewelle erweitert hat, damit jeder, der will, in diesem Winter einen warmen Platz findet. »Wir fahren durch die Straßen und bieten allen Menschen, die draußen leben, Schutz an, leider will nicht jeder mitkommen.« Ist das der Fall, verteilen die Helfer, wie auch in Jerusalem und an anderen Orten, De-cken, Kleidung und warme Getränke an die geschätzten 3.200 Männer und Frauen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Außerdem verteilt die Stadtverwaltung Heizgeräte an Alte und Bedürftige.
Angesichts der bitteren Kälte hat Sozialminister Isaac Herzog einer Überweisung an die lokalen Behörden in Millio-
nenhöhe zugestimmt, um die Soforthilfen zu ermöglichen. Israel Electric (IE), das landesweite Stromversorgungsunternehmen, verzeichnete letzte Woche den höchsten Verbrauch aller Zeiten. Der Konsum lag am bislang kältesten Tag bei 10.200 Megawatt, nur 400 unter der maximalen Auslastung. Das Unternehmen rief die Menschen auf, trotz der Kälte sparsam mit Energie umzugehen und zwischen 17 und 21 Uhr auf energieintensive Geräte wie Wäschetrockner oder Geschirrspüler zu verzichten. Sollte der Verbrauch weiter ansteigen, so IE, werde man den Strom für kurze Zeiträume abschalten müssen.
Noch fließt die Energie, doch auf dem Hof der Grundschule herrscht gähnende Leere, obwohl gerade große Pause ist. Niemand tobt, rennt oder hüpft. Der Schulleiter hat angeordnet, dass die Mädchen und Jungs im Gebäude bleiben müssen. Grund: zu kalt draußen. Das Quecksilber steht bei 6 Grad. Und das an der Küste, wo die Temperaturen tagsüber fast nie unter 12 Grad sinken. Die Angst vor Unterkühlung geht um im Land. Lehrerin Michal Ben-David erklärt: »Oft sind die Kinder zu dünn angezogen, sie kommen nur im Sweatshirt zur Schule, haben keine Jacke dabei, ge-
schweige denn Schal oder Mütze. Wenn morgens der Himmel blau ist, denken die Eltern und Kinder nicht daran, dass sie frieren könnten. Die Einwohner hier sind nicht an diese Temperaturen gewöhnt.«
Auch die Ernte leidet. Landwirte sprechen schon jetzt von Millionenverlusten, kaputte Kartoffeln in der Negev, erfrorene Erdbeeren in Galiläa. Die Bienenzüchter fürchten um ihre Stöcke. Aber die Kälte hat nicht nur Verlierer: Verkäufer von Heizgeräten, Decken und warmer Kleidung verzeichnen Rekordgewinne, bis zu 300 Prozent sollen die Umsätze gestiegen sein.
Doch nicht jeder Israeli hat Zeit oder Geld, seine Garderobe wetterfest zu machen – und dann gibt’s nicht selten Grund zum Schmunzeln. Die gewöhnliche Kleidung zu dieser Jahreszeit besteht aus Jeans, einem langärmligen Oberteil und je nach Region etwas dickerer oder dünnerer Jacke. Um dem großen Schlottern vorzubeugen, wird derzeit ein wilder Mix kreiert: Wintermantel zu den beliebten Gummischuhen Crocs, Minirock über Jogginghose, Schal auf dem Kopf statt um den Hals. »Schön ist etwas Anderes«, gibt die sonst modebewusste Studentin Noah Gat zu, »aber im Moment ist’s mir total egal, Hauptsache es hält einigermaßen warm«.
Und noch ein kleines Utensil, das für Nord- und Westeuropäer zu jeder Winterausstattung gehört, fehlt gänzlich. Zugefrorene Autoscheiben lassen die sonst selten um einen Wink verlegenen Israelis ratlos dreinschauen. Meist läuft die Lüftung bis die eisige Pracht geschmolzen ist, oder sie schaben bibbernd mit Fingernägeln und Kassettenhüllen. Von Eiskratzern hat man im sonnigen Israel noch nie et-
was gehört.

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