von André Glasmacher
Die schwarze Drossel, die emsig in einem Schutthaufen herumpickt, weiß nichts von der drohenden Gefahr: Über ihr hängt ein Backstein lose aus der Mauer und könnte jederzeit herunterfallen. Doch Joachim Dumkow hat ihn sofort entdeckt. »Vorsicht! Da fällt gleich was«, ruft der 41-Jährige energisch, während er schwungvoll über einen Schutthaufen steigt und riesige Farnwedel beiseite streift, die einen Mauereingang verbergen. Dahinter befinden sich noch mehr Schuttberge, umgeben von bröckelnden Mauerkronen. Wilder Wein fällt über leere Fensteröffnungen, von oben scheint die Frühlingssonne durch knospende Birkenzweige – im Berliner Bezirk Wedding liegt für einen Moment Caspar-David-Friedrich-Stimmung in der Luft.
Die Romantik beschränkt sich jedoch auf ein 13.000 Quadratmeter großes Mauerlabyrinth zwischen der kanalisierten Panke und der Berliner Ringbahn. Ansonsten dominieren in diesem Stadtteil eher triste Betonfassaden, Telefonshops und Männer, die mit Bierflaschen auf Bänken sitzen – die Prozentzahl der Hartz-IV-Empfänger liegt im »Kiez« im zweistelligen Bereich. All das vergisst man hier. In den Ruinen des einst größten Obdachlosenasyls von Berlin zwitschern Vögel, und eine dicke Spinne krabbelt über den Boden, direkt neben Dumkows Turnschuhen. Er steht in den Überresten der Schlafsäle, in denen einst 500 Menschen eine Bleibe fanden. Es ist das, was von einem sozialen Modellprojekt übrig geblieben ist – maßgeblich initiiert und finanziert durch liberale Berliner Juden während der Kaiserzeit. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend durch Bomben zerstört, verfällt das Gebäude seitdem von Jahr zu Jahr.
Die »Wiesenburg« – das ist ein vergessenes Kapitel Berliner Sozialgeschichte. Ebenso wie deren jüdische Stifter. Selbst Chana Schütz, eine der besten Kennerinnen der jüdischen Geschichte Berlins und Kuratorin zahlreicher Ausstellungen im Centrum Judaicum, ist überrascht, von der »Wiesenburg« zu erfahren. Für Schütz ist das Engagement selbst dabei wenig überraschend. »Es gab im Kaiserreich viele solcher Stiftungen, wie etwa die der Familie Mosse, die eine Ausbildungsstätte für Handwerker einrichtete. Zu erinnern wäre auch an James Simon, der die erste gemeinnützige Badeanstalt in Berlin-Mitte gebaut hat.« Die Motive für das jüdische Engagement seien dabei vielfältig gewesen, meint Schütz. Zum Beispiel habe es den Wunsch gegeben, die Gesellschaft mitzugestalten und sozialen Missständen entgegenzuwirken. »Die Wiesenburg als Zeugnis eines solchen Engagements ist aber eine interessante Neuentdeckung.«
Wenn die Ruinen der »Wiesenburg« weiter so zerfallen wie in den letzten Jahren, wird allerdings nicht mehr viel übrig bleiben. Wäre da nicht Joachim Dumkow. Er versucht, diesen Prozess aufzuhalten. »Das ist eine Sisyphus-Arbeit – im wahrsten Sinne des Wortes«, seufzt er und schiebt seinen gelben Bauhelm zurecht, den er gegen Steinschlag trägt. Mauere er heute einen Stein fest, falle morgen an anderer Stelle einer herunter.
Joachim Dumkow ist kein gelernter Maurer, sondern Therapeut in einer Berliner Lungenklinik. Er ist auf dem Gelände aufgewachsen, das einst villenartige Verwaltungsgebäude des Asyls ist noch bewohnbar. Dort lebt er heute mit Partnerin und Eltern. Seine Mutter ist die Nachfahrin eines jüdischen Stifters. Die Geschichte der »Wiesenburg« ist also eng mit seiner eigenen Familiengeschichte verbunden. »Deshalb schmerzt es mich, wie Berlin das alles hier verkommen lässt«, sagt Dumkow und blickt auf eine rissige Backsteinwand, aus der eine junge Birke wächst.
Was Berlin genau verkommen lässt, das erklärt er nach einem ersten Rundgang an einem weißen Campingtisch, den er zwischen den Ruinen aufgebaut hat. Eine Thermoskanne steht in der Mitte, daneben zwei Plastikbecher, aus denen Dampf zieht. Vor ihm liegt ein Buch, ein dicker Ordner mit Fotokopien und alten Bildern, die zeigen, was die »Wiesenburg« einmal war.
Die Geschichte der heutigen Ruinenlandschaft beginnt 1868. In Berlin herrscht Wohnungsnot, Obdachlosenasyle gibt es nicht. Deshalb initiiert die Kaufmannsgattin Berta Hirsch-Neumann die Gründung ei- nes Vereins, der sich um die Errichtung eines Obdachlosen-Asyls kümmern soll. Prominentestes Gründungsmitglied: der Arzt Rudolf Virchow. Auch Paul Singer, Mitbegründer der SPD, ist von Anfang an dabei. Der Verein eröffnet 1870 im Berliner Scheunenviertel, dort, wo heute die »Volksbühne« steht, ein erstes Asyl. Mit der Reichsgründung 1871 wird Berlin zur größten Industriestadt Europas, die Bevölkerungszahl nimmt rasant zu – ebenso die Wohnungsnot. Die bisherigen Kapazitäten reichen nicht mehr aus. Im Oktober 1893 erscheint in der »Vossischen Zeitung« ein von 24 Personen unterzeichneter Aufruf, in dem der Verein zu Spenden für ein neues Asyl aufruft. Neben zahlreichen Geldspenden treffen auch antisemitische Postkarten ein. Abgedruckt sind diese in einem Buch über die Berliner Sozialgeschichte. Dumkow blättert in dem Band, zeigt Fotoreproduktionen mit krakeliger Kanzleischrift. Auf einer Karte heißt es, dass angesichts der fast »ausschließlich jüdischen Aufruf-Unterzeichner« kein Betrag gezahlt werde. Auf einer anderen Karte heißt es: »Einem Verein, dem ein ›Singer‹ angehört, zahle ich keinen Silberling!«
Hirschfeld, Arons oder Cohn – jüdische Familiennamen finden sich in der Tat unter dem Aufruf. Ein Blick in die Wahllisten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin von 1892 zeigt sogar, dass im Vorstand des Vereins viele Gemeindemitglieder saßen. Letztlich war es auch eine größere Geldspende des Arztes Moritz Gerson, die es 1896 ermöglichte, das seinerzeit größte und fortschrittlichste Asyl Deutschlands zu eröffnen, das wegweisend in der Betreuung von Obdachlosen werden sollte. Bis 1914 bot die Einrichtung diesen Menschen kostenlose Unterkunft und eine warme Mahlzeit. Im Volksmund bekam das Asyl den Namen »Wiesenburg«. Revolutionär für die Zeit war, dass Obdachlose nicht als »öffentliches Ärgernis« begriffen wurden, dem man durch Repressionen abhelfen wollte, sondern als Menschen, die vor allem eines brauchten: Hilfe.
Während des Ersten Weltkriegs wurde das Asyl für das Militär requiriert. Nach dessen Ende hatten viele Stifter finanzielle Probleme, der Asyl-Betrieb wurde mit Unterstützung der Stadt Berlin weitergeführt. Ab 1926 verpachtete man dann das gesamte Gebäude an die Jüdische Gemeinde zu Berlin – zu welchem Zweck, darüber gibt es keine Unterlagen. 1935 scheint das Gebäude von den Nazis enteignet worden zu sein, Rüstungsbetriebe ziehen in die »Wiesenburg« ein.
Wenn es um die NS-Zeit geht, könnte Joachim Dumkow »vor Wut ausrasten«. Warum, das erklärt er in der 90 Quadratmeter großen ehemaligen Eingangshalle der »Wiesenburg.« Er zeigt jetzt nach oben, wo man in 30 Metern Höhe Reste des Kassettendachs sieht, das von Einschusslöchern zersiebt ist. Mildes Licht fällt durch Glasreste, und Dumkow schildert in drastischen Worten, wie die Nazis hier »verschandelnde Betonwände und eine hässliche Zwischendecke« eingezogen haben. Alles sei ihnen recht gewesen, um die soziale und jüdische Vergangenheit der »Wiesenburg« auszulöschen, zürnt Dumkow. Bis zur Zerstörung im Frühjahr 1945 wurden hier Rüstungsgüter produziert. Ein Hausmeister, das »Wiesenburg-Faktotum«, der während der NS-Zeit auf dem Gelände beschäftigt war und hier bis zu seinem Tod in den 80er-Jahren lebte, berichtete von Zwangsarbeitern, die im umfangreichen Kellersystem des Asyls »wie die Tiere eingesperrt« gewesen seien – und dort wohl auch ermordet wurden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zogen dann ausgebombte Familien in das einzige erhaltene Gebäude – wie beispielsweise die Mutter von Joachim Dumkow. Der Rest des Geländes blieb Kriegsruine. Diesen speziellen Charakter nutzten in den 70er-Jahren die Regisseure Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder. Schlöndorff drehte hier Szenen der Blechtrommel, Fassbinder Teile seines Filmes Lili Marleen. Davon zeugt noch die weiße Inschrift »Zum Luftschutzbunker« auf einer zerschossenen Backsteinmauer. »Übrigens echte Schüsse«, sagt Dumkow. Im April 1945 sei in dieser Gegend erbittert gekämpft worden.
Die wichtigste Frage nach den Eigentumsverhältnissen des Wiesenburg-Geländes ist bis heute nicht abschließend geklärt. Dumkow sagt, dass die Anlage dem 1961 reaktivierten »Asyl-Verein« gehört, in dem er selbst auch Mitglied ist. Ein freundlicher Herr aus dem Bezirksamt sieht das anders. Günter Reimann sitzt in einem Büro, in dem der Besucher vor Papierstapeln kaum Platz findet. Reimann ist Sachbearbeiter im Bereich Denkmalschutz. Seit Jahren besteht ein Rechtsstreit zwischen dem Bezirksamt und den »Wiesenburgern«. Und es gibt ein Urteil: Dem Verein wurde vor einigen Jahren die Gemeinnützigkeit aberkannt. »Das Gericht hatte den Verdacht, dass der heutige Asylverein nur gegründet wurde, um einen Zugriff auf das Gelände zu haben«, erklärt Reimann.
Dumkows Familie hat gegen das Urteil Einspruch eingelegt, eine endgültige Entscheidung steht also noch aus. Den Verdacht selbst weist Joachim Dumkow als »Quatsch« zurück. »Unsere Besitzansprüche sind nachgewiesen«, sagt er mit merklich lauterer Stimme. 1961, kurz vor ihrem Tod, habe seine Großtante, die das letzte Vorstandsmitglied des Vereins gewesen sei, die Rechte auf seine Mutter übertragen. Und der Verein habe die gleichen Grundsätze wie damals, sagt Dumkow: »Hilfe für Bedürftige«. Dass es derzeit nicht allzu viele Projekte gibt, die finanziert werden, gibt Dumkow allerdings freimütig zu. »Alle Einnahmen des Vereins fließen in den Erhalt der Wiesenburg – sonst steht hier in ein paar Jahren nichts mehr.«
Für soziale Zwecke würde Joachim Dumkow gerne die ehemalige Eingangshalle in Stand setzen. »Hier könnte man ein interkulturelles Begegnungszentrum einrichten.« Doch das Denkmalamt stellt sich quer. »Die geben uns keine Baugenehmigung.« Sein Verdacht: Es gäbe Grundstücksspekulanten, die ein Auge auf das Gelände geworfen hätten und mit dem Senat »verfilzt« seien, sagt er. Konkrete Namen will – oder kann – Dumkow jedoch nicht nennen. In den Siebzigern hätte seine Familie bereits Versuche abgewehrt, Hochhäuser auf dem Gelände der »Wiesenburg« zu errichten. Die gäbe es doch schon ausreichend in Berlin, meint Dumkow spöttisch – die Wiesenburg jedoch sei einzigartig. »Sehen Sie sich nur um«, sagt er dann mit einem versonnenen Blick. »Was man hier Schönes draus machen könnte – und das in Wedding! Das wäre auch im Sinne der Stifter.«