von Tobias Müller
Koscher essen, in die Synagoge gehen, mit den eigenen Leuten zusammenkommen. In vielen europäischen Ländern können Juden auf eine religiöse Infrastruktur zurückgreifen. Mit einer Einschränkung: solange sie Anbindung an eine Gemeinde haben. Anders sieht es aus, wenn sie in Armeekasernen Dienst tun, im Krankenhaus liegen oder im Gefängnis sitzen. An solchen Orten sind ihre religiösen Bedürfnisse selten bekannt – und noch viel seltener wird ihnen Rechnung getragen.
Dies zu ändern, ist Levy Kanelsky ausgezogen. Mit seiner Frau, ein paar Kisten an Habseligkeiten und einer Vision kam er vor vier Jahren aus der Nähe von Tel Aviv nach Brüssel. Dort gründete er das European Aleph Institute. Es möchte jüdische Wohlfahrt jenen zugänglich machen, die durch ihre Lebenslage isoliert sind.
Kanelsky ist ausgebildeter Rabbiner – »aber ohne Gemeinde, das wäre mir zu eingeschränkt, denn meine Pläne reichen weiter«. Von den kleinen Anfängen des großen Vorhabens zeugt das bescheidene Büro in der Kelleretage eines unscheinbaren Wohnhauses in einer Seitenstraße des Europaviertels. Der 26-Jährige skizziert, wie er sich »Aleph« in der Zukunft vorstellt: Zweigstellen in mehreren europäischen Ländern, Sozialzentren, in denen Bedürftige gratis essen und telefonieren, sozial und medizinisch betreut werden und eines Tages auch eine Ausbildung machen können.
Bisher liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf Gefängnissen. Als Kanelsky in Europa ankam, sprach er mit hiesigen Rabbinern. Die wiesen ihn auf die größten Engpässe hin. »Es gibt in Europa etwa 3.000 jüdische Häftlinge. Das ist zwar wenig im Vergleich zu muslimischen«, sagt Kanelsky, aber gerade deshalb sei über ihre Bedürfnisse oft nichts bekannt, »und eine Lobby, um auf sie aufmerksam zu machen, gibt es nicht.« Zudem droht den Inhaftierten die Isolation. Viele haben keinen Kontakt mit ihren Familien, und oft liegen die Gefängnisse weit entfernt von jüdischen Gemeinden. Das Aleph-Institut organisiert in solchen Fällen Besuche von Rabbinern oder Mitgliedern des Freiwilligennetzwerks, das inzwischen fast 500 Personen umfasst. Auch Kontakte zu Anwälten und Psychologen vermitteln Kanelsky und sein knappes Dutzend hauptberuflicher Mitarbeiter. »Der Bedarf ist groß«, sagt Kanelsky. Für viele sei sein Institut »die einzige Hoffnung«.
Diese Rolle erfordert einiges an Pionierarbeit. Jüdische Gefängnisinsassen haben in Europa durchaus das Recht auf koscheres Essen, einen Gebetsraum und Seelsorge durch Rabbiner. Doch bisher kam niemand auf die Idee, diese Rechte auch einzufordern. Seitens der Gefängnisleitungen stehen dem nicht nur logistische Gründe entgegen. »Koschere Nahrung kann leicht das Dreifache einer Standardmahlzeit kosten«, rechnet Kanelsky vor. Daher übernimmt das Aleph-Institut Kosten, die eigentlich der Staat tragen müsste.
Schwierig sei es manchmal, mit inhaftierten Juden überhaupt in Kontakt zu kommen. »Wir haben Broschüren in verschiedenen Sprachen und weisen die Direktionen darauf hin, auf uns aufmerksam zu machen. Aber es kommt vor, dass wir von neuen Häftlingen nichts erfahren.« Schließlich sei die erste Frage, wenn jemand ins Gefängnis kommt, nicht: »Sind Sie jüdisch?«
In der Hilfe für Inhaftierte liegt eine Parallele zum amerikanischen Aleph-Institut, mit dem das europäische jedoch nicht verbunden ist. Beiden liege zwar die gleiche Idee zugrunde, räumt Kanelsky ein, doch die Praxis sehe völlig anders aus. Das liegt zum einen an den unterschiedlichen Gefängnissystemen Nordamerikas und der EU. Dazu ist die rechtliche Situation in Europa komplexer und unterscheidet sich von Land zu Land. Zu diesem Thema richtete das Aleph-Institut vor drei Jahren eine Konferenz aus, auf der Landesvertreter über das jeweilige Gefängniswesen berichteten. Es nahmen daran auch zahlreiche EU-Funktionäre teil. Im kommenden Mai ist in Den Haag die nächste Konferenz geplant. Diesmal geht es um die Themen Recht und Gerechtigkeit.
Das europäische Aleph-Institut kümmert sich nicht nur um Inhaftierte. Patienten in Krankenhäusern gehören ebenso zur Zielgruppe wie Bedürftige innerhalb der jüdischen Gemeinden. Die allein von Spenden getragene Organisation, der Israels aschkenasischer Oberrabbiner Yona Metzger als Präsident vorsteht, agiert auf breiter Basis – und sucht weiterhin ehrenamtliche Helfer.
Beim Purimfest im vergangenen Jahr startete das Institut die bislang größte Kampagne. »Wir haben 5.000 MP4-Player im Wert von insgesamt 250.000 Euro verschenkt. In Gefängnissen, Krankenhäusern und Gemeinden. Zudem haben wir Gutscheine verschickt. Wir bekamen unglaublich viel Post zurück. Familien schrieben uns, sie hätten zum ersten Mal in ihrem Leben Steak gegessen.« Der Bekannt- heitsgrad stieg durch diese Aktion ebenso sprunghaft an wie die Zahl der Freiwilligen.
Keine Rolle spielt für das Aleph-Institut, ob ein bedürftiger Mensch orthodox, liberal oder nicht religiös ist. In der Zukunft will man in einigen Punkten sogar über den jüdischen Rahmen hinausgehen, so zum Beispiel bei einem Resozialisierungsprojekt.
Für die Tat, die ein Häftling im Gefängnis verbüßt, interessiert sich Kanelsky nicht. »Ich frage nie danach. Das könnte meinen Wunsch beeinträchtigen, der Person zu helfen. Das aber müssen wir.« Die Haft allein mache niemanden zu einem besseren Menschen, sagt Kanelsky. »Wenn wir uns jetzt nicht um sie kümmern, können sie ihre Taten wiederholen. Spätestens dann haben wir ein Problem.«