von Micha Guttmann
Nur wer dabei ist, kann mit entscheiden. Diese einfache Formel bestimmt unseren politischen Alltag. Sie macht gleichzeitig deutlich, wie wichtig persönliche Anwesenheit ist, wenn diskutiert und gestritten wird. Je kleiner das Entscheidungsgremium, umso dringender ist es, mitzuwirken und Flagge zu zeigen. Dies gilt auch für die vielen gesellschaftspolitischen Aktivitäten, die unser politisches System auf unterschiedliche Institutionen, Religionsgemeinschaften, Berufsvertretungen, Sportverbände und ähnliche Organisationen und Ver- eine übertragen hat. Die jüdischen Gemeinden sind Teil dieser Vielfalt, die das öffentliche Leben mitbestimmt, im sozialpolitischen Bereich, in der Kulturszene und nicht zuletzt in der Institution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Die Rundfunkgesetze bestimmen, dass in allen Rundfunkräten der ARD-Anstalten, des ZDF und des Deutschlandradios die jüdischen Gemeinden oder der Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten sind. Und das ist gut so. Wer könnte überzeugender die Intensivierung der Berichterstattung über Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Erziehung zur Toleranz anmahnen? Wer könnte überzeugender die Ziele des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vertreten, objektiv und vorurteilslos zu informieren und damit die Vorteile unseres demokratischen Systems für alle durchsichtig und erkennbar zu vermitteln? Viele jüdische Rundfunkräte haben sich dabei persönlich engagiert, so dass sie in den Gremien des Rundfunkrats und bei der Ge- schäftsführung der Rundfunkanstalten hohes Ansehen erworben haben. Umso unverständlicher ist daher die Entwicklung in Berlin und Brandenburg. Der Sitz des Vertreters der jüdischen Gemeinden im Rundfunkrat des RBB ist zur Zeit unbesetzt. Die jüdischen Gemeinden von Berlin und Brandenburg sowie die kleine Gemeinde Adass Jisroel in Berlin konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Vertreter einigen. Also bleibt der Platz im RBB-Rundfunkrat leer. Die Chance, im Rahmen dieses Gremiums auf Entwicklung und Gestaltung des Landessenders von Berlin und Brandenburg Einfluss zu nehmen, wird nicht genutzt (vgl. S.17).
Man könnte dies als Machtspiele frustrierter Funktionäre abtun, wie sie in allen Organisationen vorkommen. Doch diese Einschätzung greift zu kurz. Tatsächlich befindet sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland seit Jahren im Wandel. Zuwanderer und neue religiöse Strö- mungen verändern die Basis der Gemeinden und damit auch ihre Vertretungen. Diese Entwicklung muss zur Folge haben, dass sich auch die Entscheidungsinstrumente verändern. Wenn es, wie in einigen Bundesländern bereits vorhanden, verschiedene jüdische Gemeinden und damit mehrere rechtlich autonome Vertretungen gibt, müssen neue Wege der Zusammenarbeit gefunden werden. Und damit auch neue Entscheidungsprozesse. Es kann nicht sein, dass, wie im Fall des RBB-Rundfunkrats, eine Minderheit die Mehrheit daran hindert, einen gemeinsamen Vertreter zu benennen. Selbstverständlich muss intern über die richtige Vertretung gestritten werden. Und es muss sichergestellt sein, dass in diesem Prozess auch Minderheiten ihren Einfluss geltend machen können. Doch das Ergebnis der internen Diskussion muss zu einer Mehrheitsentscheidung führen.
Der Einstimmigkeitswahn behindert die Durchsetzung der Interessenvertretung und führt im besten Fall zu faulen Kompromissen. Er behindert aber auch die wahre Bereitschaft zur meist mühsamen Einigung. Diese Unfähigkeit, ein gemeinsames Ergebnis zu suchen und zu finden, kann für die Vertretung jüdischer Positionen im politischen Alltag insgesamt zum Problem werden. Sie schwächt die Handlungsfähigkeit der Gemeinden und mindert ihre Chancen, wichtige eigene Interessen durchzusetzen. Leicht kann man dabei zum Spielball der anderen werden. »Teile und herrsche!« war bereits die Maxime der römischen Imperatoren. An der Wahrheit dieses Grundsatzes in der Politik hat sich nichts geändert.
Um dieser Falle zu entgehen, brauchen wir, gerade in der wachsenden Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, den überzeugenden Willen zur Einigung. Wir müssen in den Gemeinden und innerhalb der jüdischen Gremien eine neue Kultur von Entscheidungsprozessen entwickeln: offen und kontrovers, aber mit dem unbedingten Willen, gemeinsame Positionen zu erarbeiten und im politischen Alltag durchzusetzen. Persönliche Machtspiele Einzelner sind dabei fehl am Platz.
Der Autor ist Rechtsanwalt, Redakteur und Moderator beim WDR und war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied und Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er moderiert die wöchentliche Sendung »Schalom« im Deutschlandfunk.