Standpunkt

Einheit in Vielfalt

Die aktuelle Situation des liberalen Judentums ruft Erinnerungen an die 90er-Jahre wach. Damals wurden erstmals nach der Schoa im großen Stil wieder liberale Gemeinden in Deutschland gegründet. Im Land der Einheitsgemeinden gab es jedoch zuerst viele Vorbehalte gegen das Reformjudentum. In Ahnungslosigkeit als »Judentum light« geschmäht, bedurfte es des Mutes und der Kraft der Pioniere, das liberale Judentum aufzubauen.

Diese Zeit war konfliktträchtig und frustrierend. Der Zentralrat der Juden stand der Reformbewegung kritisch bis feindlich gegenüber, eine Zusammenarbeit musste mühsam erkämpft werden. Die Union progressiver Juden (UpJ) spielte dabei eine wichtige Rolle. Mittlerweile gibt es ein kontrovers-produktives Miteinander. Perspektiven wandelten sich, und Verbindungen wurden geknüpft. Heute stehen Programme und finanzielle Zuwendungen des Zentralrats allen jüdischen Gemeinden offen, ob liberal, konservativ oder orthodox.

zerreissprobe Doch die gewachsene Zusammenarbeit steht vor einer neuen Zerreißprobe. Nach wiederholten Berichten zu sexualisierter Belästigung an der Ausbildungsstätte für liberale Rabbinerinnen und Rabbiner, dem Abraham Geiger Kolleg (AGK), und des irritierenden Umgangs damit häuften sich Vorwürfe des Machtmissbrauchs in dieser und weiteren Institutionen. Der Name Walter Homolka tauchte dabei immer wieder auf.

Als Hauptverantwortlicher in den betroffenen Einrichtungen wurde Walter Homolka zum Epizentrum des Skandals.

Als Hauptverantwortlicher in den betroffenen Einrichtungen wurde er zum Epizentrum des Skandals. Der Zentralrat, der größte Drittmittelgeber liberaler Institutionen, erhielt zunehmend Kenntnis von Betroffenen und entschied, eine renommierte Anwaltskanzlei mit der Aufklärung zu beauftragen. Letztlich stimmten die liberalen Institutionen zu, auch die UpJ.

So liegen mittlerweile zwei unabhängige Untersuchungsergebnisse vor. Die Universität Potsdam, an der das AGK angesiedelt ist, sowie die Kanzlei bestätigen den Vorwurf des Machtmissbrauchs und ein »Klima der Angst«, erzeugt durch Homolka und sein System. […]

ergebnisse Trotz der alarmierenden Ergebnisse schweigen die Verantwortlichen, machen vermeintliche Formfehler der Untersuchungen geltend oder behaupten einfach, wie die UpJ, »es gab keinen Machtmissbrauch«. Homolka selbst weist kategorisch jede moralische sowie rechtliche Verfehlung von sich.

Stattdessen wird gegenüber all denjenigen, die sich äußern, mit juristischen Schritten gedroht – auch dem Zentralrat. Bis heute gab es kein Bedauern, keine Entschuldigung, kein Hilfsangebot für die Betroffenen. Weder von Homolka noch von der UpJ.

Transparenz, Teilhabe und Vertrauen sind die Basis für den Neuanfang.

Auf der letzten Mitgliederversammlung der Union ließ Homolkas altbekannte Gefolgschaft ein aufrichtiges Interesse an Aufklärung nicht erkennen, im Gegenteil: Kritische Gegenstimmen wurden nicht berücksichtigt, Betroffene nicht wahrgenommen, deren Erfahrungen bagatellisiert, negiert oder gar als selbstverschuldet deklariert.

nachfolgerin Homolka trat zwar nicht mehr erneut für den Vorsitz der UpJ an, seine Nachfolgerin Irith Michelsohn ist aber eine seiner Vertrauten. Zweifelhafte Finanzberichte etwa wurden gemeinsam erstellt und verteidigt, wodurch schon früher Intransparenz und Misstrauen wuchsen. Die Fronten haben sich dadurch in den letzten Jahren verhärtet.

Dies setzte sich auf der Sitzung im Dezember 2022 fort. Auf der einen Seite jene, die Verantwortung abtun, Ergebnisse der Gutachten in Abrede stellen und sich vom Zentralrat lösen wollen. Auf der anderen Seite die, die den Betroffenen Glauben schenken, bestehende Strukturen aufbrechen und an der Zusammenarbeit mit dem Zentralrat festhalten möchten. Und dann gibt es solche, die zwischen den Stühlen sitzen – überfordert und verunsichert bezüglich der Zukunft der eigenen Gemeinde.

Altersarmut, Krieg in der Ukraine und Antisemitismus sind die Herausforderungen unserer Generation. Diesen können wir nur durch vertrauensvolle Strukturen begegnen. Homolka und seine Gefolgschaft bringen mit ihrem Verhalten nicht nur ihr Lebenswerk in Gefahr, sie verlassen die Wertebasis des Judentums und zerstören das Vertrauen in jüdische Institutionen.

machtmissbrauch Das liberale Judentum muss jetzt partizipative und transparente Strukturen schaffen, die zukünftigem Machtmissbrauch entgegenwirken, Betroffenen Gehör verschaffen und wichtige Errungenschaften, wie etwa die liberale Rabbinerausbildung, bewahren. Die durch diese Situation erforderliche Neuorganisation liberaler Gemeinden unter dem Dach des Zentralrats konkretisiert sich in diesen Tagen. Immer mehr liberale Gemeinden wollen Teil dieser Neustrukturierung sein.

Immer mehr liberale Gemeinden wollen Teil dieser Neustrukturierung sein.

Homolka und die Führungsebene der UpJ haben sich seit jeher ihrer internationalen Verbindungen gerühmt. Doch durch den Skandal bröckelt auch diese Allianz. Zunehmend erfahren die Gemeinden, die an der Neustrukturierung des liberalen Judentums arbeiten, Zuspruch und Unterstützung auch aus dem Ausland. Eines wird deutlich: Die Zeit für Homolka und seine treue Gefolgschaft ist abgelaufen.

Aber nicht für das liberale Judentum, im Gegenteil. Liberale Gemeinden gestalten nun eigenständig die Zusammenarbeit mit dem Zentralrat neu. In Gemeinschaft, in Vertrauen, aber autonom in Fragen religiöser Praxis. In der Hoffnung auf eine wirkliche, gelebte Einheit in der Vielfalt.

Die Autorin ist Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen und Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover.

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