von christine Schmitt
Ihre Nervosität verbirgt sie gekonnt. Fast gelangweilt wirkt Sivan Tsur und sagt mit ruhiger Stimme: »Ich will eine Goldmedaille gewinnen, aber ich bin aufgeregt.« Doch bis ihr Lauf bei den Nationalen Sommerspielen der Special Olympics aufgerufen wird, ist noch Zeit. Die Schwimmerin steht von ihrem Platz auf der Tribüne auf, streift sich ihren weißen Bademantel mit der Aufschrift »Israel« über, zieht an ihrer Badekappe, bis ihre langen Haare zum Vorschein kommen – und macht erst einmal Pause. Ein großes Handtuch breitet sie auf dem Fußboden aus, legt sich hin und schließt ihre Augen. Dan und Israel, ebenfalls Schwimmer, machen es ihr nach. Ruhe vor dem Wettkampf – zumindest bei ihnen. Im Europasportpark an der Landsberger Allee muß man schon schreien, um sich zu verständigen, so laut ist es. Ständig werden Namen zum Start aufgerufen und Gewinner bekanntgegeben.
In der vergangenen Woche stiegen ganz besondere Sportler auf die Startblöcke, um ins Wasser zu springen und ihre besten Leistungen zu zeigen. Denn bei den Nationalen Sommerspielen der Special Olympics dürfen nur geistig und mehrfachbehinderte Menschen an den Start gehen. In olympischen Disziplinen traten 2.700 Athleten an. Mit dabei war eine Delegation aus Israel. Zehn Sportler, einige Trainer und mehrere Betreuer reisten nach Berlin, um beim Tennis, Radfahren und Schwimmen dabei zu sein –wie auch Sivan Tsur.
Vor 20 Jahren kam die Sportlerin mit dem Down Syndrom auf die Welt. Ein Schock sei das damals für ihre Eltern gewesen, sagt ihr Trainer Oz Arie. Heute sind sie sehr stolz auf sie. Mit zehn Jahren entdeckte Sivan Tsur, daß Schwimmen ihre große Leidenschaft ist. Immer wieder zieht es sie ins Becken und ziemlich rasch erlernt sie die verschiedenen Stile. Mittlerweile ist sie nahezu unschlagbar in Schmetterling und in dieser Disziplin will sie gleich auch an den Start gehen.
Sivan Tsurs Pause ist beendet. Sie ist wieder hellwach und gibt ihrer israelischen Betreuerin einen Kuß. Zusammen schauen sie vom obersten Rang hinunter auf die Schwimmbecken. Nur noch wenige Läufe, bis Sivan in kühle Naß springen darf. An einem Becken darf sie sich warmschwimmen und wird auch von dort abgeholt, um an den Startblock von einem Volontär begleitet zu werden. Zusätzlich wird neben ihr Irena Fliter gehen. »Die Betreuer dort unten können ja kein Hebräisch«, sagt die 22jährige Berliner Geschichtsstudentin. Die Gemeindemitglieder Irena Fliter, Alexander Morduchaiev, Jenny Gorodetskaja und Isaak Lat hatten sich sofort dazu bereit erklärt, die Gäste aus Israel zu betreuen, als sie vom TuS Makkabi darum gebeten wurden.
Die Stadt haben sie ihnen gezeigt und sie waren beim Empfang im Jüdischen Gemeindehaus dabei. »Ich bin positiv überrascht, wie fröhlich sie sind und was für eine Herzlichkeit diese Sportler ausstrahlen«, sagt Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Auch an diesem Wettkampftag weicht Irena Fliter nicht von der Seite der israelischen Gäste. »Aber ich bin schon heiser, weil es hier so laut ist«, sagt sie. Sie selber hat als Schachspielerin bereits an zwei Makkabiaden teilgenommen und war immer wieder beeindruckt, wie freundlich sie in Israel aufgenommen wurde. »Das möchte ich jetzt zurückgeben«, meint sie.
»Die Makkabiaden sind super, aber der Wettkampf hier ist auch toll«, schwärmt Oz Arie. Er ist zum ersten Mal in Berlin und ist von der Atmosphäre begeistert. Sein Vater ist Holocaust-Überlebender aus Polen und Oz Arie hatte sich schwer damit getan, ausgerechnet in die Bundesrepublik zu reisen. In seiner Heimat arbeitet der Schwimmtrainer überwiegend mit behinderten Menschen zusammen. »Sie haben dieselben Rechte wie andere, brauchen aber mitunter eine spezielle Förderung«, sagt der 40jährige. Für ihn sei es wichtig, daß behinderte Menschen ein »normales« Leben führen können. Und dazu gehören eben auch Sport und Wettkämpfe.
»Ich muß eine Goldmedaille gewinnen«, sagt auch Israel Kadush, der ebenfalls das Down Syndrom hat. Die möchte der 21jährige seiner Mutter schenken, denn die habe immer an ihn geglaubt und ihn immer wieder angespornt. Außerdem liege seine Großmutter gerade im Krankenhaus und die wolle er mit einer Medaille erfreuen. Am Vortag sei es ihm bei den Vorläufen schlecht ergangen. »Ich bin reingesprungen, wurde ärgerlich und konnte kaum schwimmen. Dann fing ich an zu weinen.«
Aber als es ernst wird, ist er ganz konzentriert dabei. Später holt er im Brustschwimmen Edelmetall. Überhaupt sind alle Sportler aus Israel erfolgreich und gewinnen bei den National Games insgesamt 18 Medaillen.
Auch Sivan Tsur ist heute unschlagbar. Nach einer persönlichen Bestleistung mit 58 Sekunden auf 50 Metern steigt sie aufs Treppchen und läßt sich als strahlende Goldmedaillengewinnerin feiern.