Als sie Ende 1995 aus dem ukrainischen Odessa ins Ruhrgebiet kam, musste sich Udlya Leontieva erst einmal an die neue Situation gewöhnen: Keine Arbeit – dafür aber viele Gänge zu Ärzten, dem Sozialamt oder dem Arbeitsamt. Und das alles mit geringen Deutschkenntnissen. Wie gerne hätte sie damals jemanden gehabt, der ihr die Angst nimmt. »Heute habe ich in meinem Alter keine Angst mehr vor Behörden. Deshalb begleite ich die anderen Leute aus der Gemeinde dorthin«, sagt die heute 71-Jährige. In Gelsenkirchen ist sie für ihre Ge
meinde einfach Gold wert.
erfahrung Udlya Leontieva ist mehr als nur Dolmetscherin im Büro der Arbeitsagentur: »Ich weiß aus meiner eigenen Erfahrung, was man sagen muss und was die Beamten wissen wollen. Das ist mehr als nur zu übersetzen«, sagt die Gelsenkirchnerin in gutem Deutsch. Das hat sie sich schon in der Ukraine beigebracht, als sie wusste, dass sie nach Deutschland wollte. Heute lernt sie noch viel von ihren Enkelinnen, die schon in Deutschland zur Welt kamen: »Die verbessern mich jeden Tag – und ich freue mich, dass sie so gut diese Sprache sprechen.«
Es ist fast 15 Jahre her, als die Ukrainerin zusammen mit ihrem kranken Mann ins Ruhrgebiet kam. Zuvor hatte Udlya Leontieva viel gearbeitet: Als Näherin für Anzüge, als Chefköchin in einer Gaststätte und am Ende fast 22 Jahre bei der ukrainischen Eisenbahngesellschaft im Kartenverkauf per Telefon. Mit 58 hatte sie plötzlich in Deutschland keine Chance mehr, irgendwo unterzukommen: »Ich wollte unbedingt arbeiten und dachte, ich kann doch so vieles. Aber es gab keine Arbeit für mich. Und fremdes Geld zu nehmen, daran konnte ich mich nicht gewöhnen.« Depressionen habe sie zu dieser Zeit gehabt. Als es ihrem Mann schlechter ging, sei sie fast allein auf sich gestellt gewesen, erzählt sie.
Fast, denn die Gemeinde kümmerte sich um das Ehepaar aus der Ukraine: »Ich war nie ein religiöser Mensch gewesen. Das habe ich erst durch meinen Mann hier kennengelernt. Und die Leute aus der Gemeinde haben meinen Mann häufiger besucht als Freunde oder Verwandte.«
dankbarkeit Nach dem Tod ihres Mannes spürte Udlya Leontieva, dass »man im Leben etwas zurückgeben muss. Man hat mir damals geholfen, jetzt wollte ich helfen«, sagt die Ukrainerin. Und das tat sie. Inzwischen verstand sie gut Deutsch, konnte sich immer verständlich machen. Und auch mit manchen störrischen Beamten kam sie gut zurecht: »Meine Erfahrung konnte ich gut dafür einsetzen, anderen Gemeindemitgliedern zu helfen.«
Montags und mittwochs sitzt sie bis heute in der Synagoge in Gelsenkirchen, um als Ansprechpartnerin da zu sein – freiwillig und ehrenamtlich. Häufig bleibt es nicht bei diesen Tagen: »Die Leute rufen mich an, wenn sie mich brauchen. Es ist schön, Beschäftigung zu haben und eine Aufgabe, die sinnvoll ist.«
Behördengänge sind nicht das Einzige, was Leontieva für die Gemeinde leistet. Krankenbesuche gehören ebenso dazu. Und die Totenwaschungen: Eine besondere Aufgabe, für die die Gemeinde nicht immer freiwillige Helfer findet. Leontieva ist Mitglied der Beerdigungsgesellschaft Chewra Kadischa. »Ich hatte vorher richtig Angst davor, konnte mich dann aber doch überwinden. Das erste Mal war schon un-
heimlich. Aber wenn man weiß, dass jeder irgendwann darauf angewiesen ist, dass es Menschen gibt, die das machen, fällt es einem leichter«, sagt die 71-Jährige, die mit dieser Arbeit manchmal einen ganzen Tag beschäftigt ist.
Einsatzbereitschaft Leontieva macht ihre Sache gut, das ist bekannt: »Ohne Menschen wie Udlya würde unsere Ge-
meinde nicht so funktionieren, wie sie funktioniert. Sie ist unbezahlbar für uns«, sagt die Vorsitzende der Gemeinde, Judith Neuwald-Tasbach über den weiblichen Allrounder hinter den Kulissen.
Auch in Essen oder Bochum hat die 71-Jährige schon ausgeholfen, mit viel Engagement. Rechnet sie die Zeit aus, die sie für das Gemeindeleben aufbringt – käme sie wohl auf eine 40-Stunden-Woche. So viel, wie andere im normalen Arbeitsleben mit ihrer Tätigkeit verbringen. Vielleicht ist Udlya Leontieva auch deshalb so zufrieden mit ihrem Leben in Gelsenkirchen: »Bei mir kommt keine Langeweile auf, ich habe immer etwas zu tun.« Und wenn es die Enkelinnen sind, auf die sie aufpasst und die ihr im Gegenzug wieder ein wenig mit der deutschen Sprache auf die Sprünge helfen. Oder der Chor, in dem sie leidenschaftlich gerne singt.
Ob solche Posten in einer Gemeinde auch künftig noch ausgefüllt werden, darüber macht sich auch Leontieva Gedanken: »Ich glaube das wird für die nächste Generation schwieriger. Man ist nicht mehr so eng verbunden mit der Gemeinde. Das ist schade«, sagt sie. Und überlegt einen kurzen Augenblick, warum es schade ist. Dann fällt es ihr ein und sie sagt lächelnd: »Es ist einfach so schön, wenn man gebraucht wird.« Und das wird sie. In Gelsenkirchen und Umgebung.