Hier noch etwas Puder, dort vielleicht ein bisschen Rouge –Marga Spiegel erträgt das Getupfe der Stylistin geduldig. »Ich stehe zu meinen Falten«, sagt sie und lacht. Eigentlich braucht sie gar kein extra Make-up, denn die 97-Jährige hat sich ohnehin zurechtgemacht – Anfang Oktober kommt »Unter Bauern« in die Kinos. Das ist die Verfilmung ihrer Biografie, und dafür möchte Marga Spiegel werben. Sie trägt dunkelroten Lippenstift, einen fast exakt gezogenen Lidstrich, ihre Nägel hat sie rosé lackiert. Die weißblonden Haare sind hochgesteckt. Kleine Locken an der Seite verleihen ihrem Gesicht etwas Mädchenhaftes. So detailverliebt Marga Spiegel bei ihrem Äußeren ist, so klar und geradeheraus sind ihre Worte. Wenn sie spricht, mischt sich manchmal ein bisschen Platt ins Hochdeutsche. Zum Beispiel immer dann, wenn sie von der Nacht berichtet, die ihr Leben verändern sollte.
In dieser Nacht im Jahr 1943 waren Marga Spiegel, ihre Tochter Karin und ihr Mann Siegmund, genannt Menne, auf der Flucht. Unterwegs zum Hof der Bauernfamilie Aschoff. »Bevor wir flüchteten, gab es viele Gerüchte über Deportationen. Andere Bauern sagten zu meinem Mann: ›Man hört ja nichts Gutes‹. Als Menne aufgefordert wurde, sich zu einer Kontrolle der Arbeitspapiere zu melden, fasste Bauer Aschoff den Entschluss: ›Ick verstopp dich.‹« Nachdem sie aus ihrer westfälischen Heimatstadt Ahlen 1940 zuerst in ein »Judenhaus« und dann in eine Baracke nach Dortmund fliehen musste, bedeutet das für die Familie Spiegel, einen halbwegs sicheren Unterschlupf gefunden zu haben. Versteck Während Marga Spiegel mit etwas rauer Stimme erzählt, scheinen vor ihren Augen die Bilder der Flucht und die Gedanken an die vielen Monate im Versteck noch einmal abzulaufen.
Sie lehnt sich in den braunen Ledersessel zurück und atmet tief durch. »Es war nicht einfach. Besonders für meinen Mann, denn er musste sein Versteck mehrmals wechseln. Meistens war er allein, gesprochen hat er kaum.« So war es Siegmund Spiegel fast unerträglich, als ihm im Mai 1945 seine Tochter Karin vor Freude, ihren Vater wiederzusehen, um den Hals fiel. »Sie umschwirrte ihn, wie Kinder das natürlich tun und war sehr enttäuscht, ihn so gebrochen zu sehen. Karin sagte: ›So einen Papi will ich nicht‹.«
Marga Spiegel beugt sich nach vorn. »Die ersten Tage nach unserer Befreiung waren alles andere als freudig. Die Stimmung war gedrückt, angespannt. Auch unter den Bauern. Denn viele Höfe wurden nach Kriegsende angesteckt.« Für die Familie selbst, die sich erst langsam wieder an das Zusammenleben gewöhnen musste, waren es schwierige Zeiten. »Insgesamt hatten wir 37 Menschen verloren, darunter viele Kinder. Die Hoffnung, sie alle wiederzusehen, gaben wir nie auf.«
Eigentlich stand für die damals 33-Jährige fest, dass sie nach Israel auswandern wollte. »Ich war schon als Jugendliche Mitglied in der zionistischen Jugend. Nur mein Mann hatte zu dem Land irgendwie keinen Bezug.« Noch bevor sie heirateten, nannte er sie immer scherzhaft »Palästina-Mädchen«. Er war Jude, aber in Westfalen zu Hause und Pferdehändler. »Was sollte er in Israel? Er konnte nicht einmal Englisch.« So ging die Familie Spiegel wieder nach Ahlen zurück. Und fing ganz von vorn an. »Wir hatten nichts, nicht einmal Besteck.« Marga Spiegel, die neben ihrer Tochter auch noch einen Sohn hat, blieb bis zum Tod ihres Mannes 1992 in der Stadt, ehe sie nach Münster zog. Ihren Kindern die Geschichte zu vermitteln, fiel Marga Spiegel nicht immer leicht. »Es war schwierig, ihnen zu erklären, warum so viele einfach weggeschaut haben, als Juden abtransportiert wurden.«
Und oft überlegt sie, ob die Menschen heute erneut so reagieren würden. Sie macht es sich in ihrem Sessel bequem und rückt ihr blau-graues Kleid zurecht. Etwas müde wirkt sie, denn die vergangenen Wochen waren anstrengend. »Mein Sohn sieht es nicht gern, dass ich für den Film so viel unterwegs bin. Gerade vorletzte Woche war ich noch bei Veronicas Eltern in Solingen.« Sie meint Veronica Ferres, die Hauptdarstellerin im Film. »Wir sind richtige Freundinnen geworden. Vielleicht auch, weil wir uns so ähnlich sind. Wir zerpflücken gern alles – gehen den Dingen auf den Grund.« Schon in der Schule, erzählt Marga Spiegel, habe man sie »das Fragezeichen« genannt. »Ich war neugierig – im positiven Sinne.« Auch deswegen wollte sie Physik studieren, musste es aber nach dem ersten Semester beenden, weil sie Jüdin war.
Die ältere Dame ist mit dem Film zufrieden. Sie fand die Schauspieler beeindruckend. Auch dem Regisseur sei es gelungen, jede Facette spannend umzusetzen. »Nachdem der Film abgedreht war, dachte ich, jetzt sei alles vorbei. Aber Regisseur Ludi Boeken sagte mir, dass es jetzt erst richtig losginge.« Und so reist Marga Spiegel, die 97-Jährige, die eher wie 79 wirkt, auch schon mal nach Locarno zur Premiere beim Filmfestival oder verbringt Stunden mit Interviews. Und ganz nah bei ihr, an einer Kette um ihren Hals, ist das letzte Geschenk ihres Mannes – eine kleine Torarolle. »Die kann man aufmachen«, sagt sie. Mit etwas zitterigen Händen öffnet sie die kleine Öse. Hinter den beiden Klappen stehen in winzigen Buchstaben auf blauem Hintergrund die Zehn Gebote. »Wenn wir uns daran halten, dann kann eigentlich nichts schiefgehen.«