von Rabbiner Carl M. Perkins
Simchat Tora ist einer der seltsamsten Tage im jüdischen Kalender. Denn auf der einen Seite ist es ein Tag intensiver Freude, an dem wir singen und mit der Tora tanzen. Andererseits ist Simchat Tora auch ein Tag, an dem wir in den Synagogen einen Toraabschnitt lesen, der thematisch weit von Tanz und Feier entfernt ist.
An Simchat Tora lesen wir die letzten Zeilen aus der Sefer Tora, dann drehen wir die Torarolle wieder zurück, und beginnen mit dem ersten Buch Moses. In der letzten Alija des fünften Buches Moses, am Ende von Dewarim, geht es um die sehr traurige Geschichte seines Todes: »Und Moses stieg hinauf von den Steppen Moab auf den Berg Nebo … und der Ewige ließ ihn sehen das ganze Land …Und der Ewige sprach zu ihm: Dies ist das Land, das ich zugeschworen Abraham, Jizchak und Jaakob … ich habe es dich sehen lassen, aber hinübergehen sollst du nicht. Und es starb daselbst Mosche, der Knecht des Ewigen, im Lande Moab, auf Befehl des Ewigen.«
Was für eine eigenartige Geschichte für einen so fröhlichen Tag. Wir lesen nicht nur von seinem Tod, sondern auch von seiner Beisetzung und der Trauer Israels.
Warum an diesem Tag? Warum haben die Rabbiner nicht entschieden, die jährliche Toralesung zum Beispiel während Sukkot zu beenden und an Simchat Tora mit dem 1. Buch Moses wieder zu beginnen? Dann müßten wir jetzt nicht so eine traurige Geschichte lesen.
Wenn man es aber etwas genauer betrachtet, kann man diesem Thema leider auch nicht entfliehen, wenn man das erste Kapitel von Bereschit liest. Denn mit der Schaffung der Menschheit erleben wir auch den Beginn der Sterblichkeit. Gott war immer, und wird immer sein. Aber menschliche Wesen, die am sechsten Tag der Schöpfung geschaffen wurden, kommen an einem bestimmten Tag in die Welt und verlassen sie auch an einem bestimmten Tag. Niemand von uns wird für immer leben.
In diesem Sinne konfrontieren uns die Lesung aus Dewarim und die aus Bereschit mit dieser existentiellen Herausforderung: unserer Sterblichkeit. Aber sollten wir nicht wenigstens während unseres fröhlichen Feiertages von dieser Wahrheit verschont bleiben?
Nein. Denn vielleicht ist gerade so ein freudiger Tag die beste Gelegenheit, uns an diese frustrierende Qualität des menschlichen Daseins zu erinnern: das weder wir noch unsere Lieben für immer leben.
In diesem Sinne erweitert Simchat Tora einfach das Thema des Laubhüttenfestes. Denn was tun wir während Sukkot, dem fröhlichsten Pilgerfest des ganzen Jahres? Wir verlassen unsere Heime und halten uns in einfachen Hütten auf. Was ist dabei der tiefere Sinn? Die Erkenntnis, daß, so sehr wir uns auch beschützt fühlen, wir nur die Skhach (die aus Palmenzweigen oder sonstigem Grün bestehende Decke der Sukka) über unseren Köpfen haben. Nichts mehr als das. Der Wind kann eine Hütte einfach umblasen. Selbst leichter Nieselregen kann uns schon dazu bringen, wieder in unsere Wohnungen zurückzukehren. Das zeigt doch, wie schutzlos wir eigentlich sind.
Leben scheint manchmal unglaublich ungerecht zu sein. Wir haben eben nur eine bestimmte Zeit zu leben – und nicht länger. Jeder Tag ist ein Geschenk. Wann auch immer wir sterben, kann es unfair erscheinen. Wann immer unsere Lieben aus dem Leben scheiden, scheint dies ungerecht. Die Frage ist, wie wir damit umgehen können. Wie können wir dennoch hoffnungsvoll sein?
Der abschließende Abschnitt im 5. Buch Moses beginnt zwar, aber endet nicht mit dem Tod Moses. Nach der Schilderung seines Todes, der Beisetzung und der Trauer, heißt es im Text: »Wajitmu jmei wechi ewel Mosche«, »Und die Tage des Beweinens der Trauer um Mosche endeten«. So intensiv unsere Trauer auch sein möge, letzten Endes kommt sie doch zu einem Ende. Und was ist mit Moses? Nun, obwohl er begraben wurde, sein Vermächtnis bleibt lebendig. Diese Hinterlassenschaft ist die Tora, das Objekt unserer Liebe und Hingabe. Mit diesem Erbe tanzen wir an Simchat Tora. Durch dieses Vermächtnis lebte Moses weiter.
Unsere Aufgabe ist es, uns unserer Lieben zu erinnern. Indem wir uns ihrer Werte verpflichtet fühlen, sollte ihr Vermächtnis durch uns weiterleben. Das ist wahrer Anlaß zur Freude, für Simcha. Möge es uns vergönnt sein, uns der Tora zu erfreuen. Und mögen wir das Privileg haben, uns an unsere Lieben zu erinnern.