Die Hohen Feiertage sind für Juden in der ganzen Welt eine Zeit der Selbstreflexion und des Nachdenkens darüber, was wir falsch gemacht haben. Es ist auch die Zeit, in der wir jene um Vergebung bitten, denen wir Unrecht angetan haben.
Eine solche Bitte muss aufrichtig sein. Sie muss von Herzen kommen und darf nicht nur Kalkül sein. Höflichkeit hin oder her: Wer etwas nicht bereut, sollte auch nicht um Entschuldigung bitten. Und sich nur zu entschuldigen, reicht nicht. Man muss bereit sein, es künftig besser zu machen. Das funktioniert bekanntlich nicht immer – aber zumindest versuchen sollte man es.
Die eigene Glaubwürdigkeit stellt man im Judentum auch dadurch unter Beweis, dass man jene angemessen entschädigt, denen Unrecht widerfahren ist. Das biblische Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn« wird oft als Beispiel für jüdische Rachsucht fehlinterpretiert. In Wahrheit meint es genau das Gegenteil: Man soll einer Person, der man Leid zugefügt hat, den Schaden großzügig erstatten. All diese Grundsätze sind nicht nur jüdisch, sie sind über die Jahrhunderte hinweg in unseren westlichen Gesellschaften zum Allgemeingut geworden.
Entschuldigung Der frühere US-Präsident Barack Obama bezeichnete seine Entschuldigungen für die dunklen Seiten der US-Geschichte als »Abrechnung mit der Geschichte«. In diesem Sommer entschuldigte sich die Verteidigungsministerin der Niederlande, Kajsa Ollongren, für die Untätigkeit niederländischer UN-Friedenstruppen während des Genozids an Muslimen in Srebrenica im Juli 1995. Und vor Kurzem bat Papst Franziskus sowohl für das »Übel des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche« als auch bei den indigenen Völkern Kanadas für die Rolle der Kirche bei der »Zerstörung ihrer Gemeinschaften« um Entschuldigung.
Noch eine Bitte um Verzeihung war Anfang des Monats wichtig: Im Namen der Bundesrepublik Deutschland entschuldigte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei den Angehörigen der elf israelischen Athleten, die 1972 bei den Olympischen Spielen in München von palästinensischen Terroristen ermordet worden waren. Diese Geste war sicherlich aufrichtig gemeint. Denn sie ging einher mit einer Einigung (in letzter Minute zwar, aber immerhin) auf eine angemessene finanzielle »Entschädigung« für die Hinterbliebenen.
Sie kam natürlich – auch das gehört zur Wahrheit – viel zu spät. Aber immerhin, sie kam. Dennoch bin ich als im Ausland lebender deutscher Jude einigermaßen perplex, wenn ich auf das eigene Land und seine Politiker schaue. Denn: Für die documenta in Kassel – eine der wichtigsten Kunstausstellungen weltweit – haben sich die staatlichen Stellen in Deutschland bislang nicht entschuldigt. Und das, obwohl diese Schau zu großen Teilen mit dem Geld der Steuerzahler finanziert wurde.
Wer ist bereit, Verantwortung auf sich zu nehmen?
Entschuldigt hat sich zwar das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi für sein Banner »People’s Justice«, welches antisemitische Motive enthielt. Auch das Kuratorenteam ruangrupa bat im Juni dafür um Entschuldigung. Wie wenig ernst sie es meinten, bewiesen dieselben Akteure dann aber den Rest des Sommers über. Von echter Reue war da nichts zu spüren, im Gegenteil: Den Kritikern der antisemitischen Exponate wurde sogar Rassismus unterstellt. Wie überhaupt die deutsche Kulturszene – unterstützt von der Kasseler Kommunalpolitik – eher dazu neigte, die Schuldigen für das Scheitern der documenta bei den jüdischen Organisationen auszumachen.
deckmantel »Lasst uns doch bitte mit euren Antisemitismusvorwürfen in Frieden und macht uns nicht mutwillig unsere schöne documenta kaputt«: So oder so ähnlich könnte man die Haltung der Macher auf den Punkt bringen. Unter dem Deckmäntelchen der Kunstfreiheit hieß es in Kassel »Anything goes«. Fast alles war erlaubt. Dabei hatte nicht nur der Zentralrat der Juden, sondern sogar der Bundespräsident zum Auftakt der Schau zu Recht gewarnt: »Kunstfreiheit ist nicht absolut und kann es auch nicht sein.« Das wollte man aber nicht hören. Man wollte es auch nicht wahrhaben.
Fragen bleiben auch an die Politik in Berlin und in Wiesbaden. Warum war sie nicht willens oder nicht in der Lage, die wiederholten Ausbrüche von Antisemitismus und Israelfeindlichkeit auf der documenta zu stoppen? Waren die fünf Jahre Vorlauf für die Vorbereitung des Events etwa nicht ausreichend? Und wie kann angesichts dieser organisierten Verantwortungslosigkeit sichergestellt werden, dass die documenta sixteen 2027, oder auch eine andere Ausstellung, nicht erneut zum Rummelplatz von BDS-Aktivisten wird? Wer ist bereit, die Verantwortung auf sich zu nehmen? Oder will man heimlich, still und leise hinnehmen, dass auch Antisemitisches einen Platz bekommt?
50 Jahre hat es gedauert, bis Deutschland die richtigen Konsequenzen aus dem Olympia-Attentat in München gezogen hat. Wenn man die Debatte in und um Kassel herum verfolgt, beschleicht einen das Gefühl, dass es ähnlich lange dauern könnte, bis man sich für die diesjährige documenta entschuldigen wird. Von Einsicht in eigene Fehler sind die meisten weit entfernt. Und verantwortlich waren immer die anderen – der Aufsichtsrat, die Vorgängerregierung, das Kuratoren-Kollektiv, die Medien. Oder aber man weigert sich schlicht, Fehler überhaupt als solche einzugestehen.
Sicherlich, das offizielle Deutschland des Jahres 2022 bemüht sich redlich, das Richtige zu sagen. Man ist sich der Verantwortung bewusst.
ressentiments Gleichzeitig gibt es unterschwellig, abseits der hehren Reden, auch im politischen und im Kulturbetrieb noch Ressentiments gegenüber Juden. Es wäre angesichts der jüngsten Studien, die einen großen antisemitischen Bodensatz in der deutschen Gesellschaft nachweisen, auch verwunderlich, wenn es anders wäre.
Dennoch: Wenn sich Deutsche öffentlich judenfeindlich äußern, geht in der Regel ein Aufschrei der Empörung durch das Land. Doch wenn diese Ressentiments von Vertretern des sogenannten Globalen Südens geäußert werden oder in deren Kunstwerken zum Vorschein kommen, dann wird das gern toleriert oder sogar mit Verve verteidigt. Das Verständnis für den Antisemitismus der anderen – insbesondere, wenn er sich explizit auf Israel bezieht – ist weit verbreitet.
Deswegen war auch der Rücktritt der Generaldirektorin der documenta nicht mehr als ein Feigenblatt. Wenn die »Verantwortlichen« zurücktreten, bringt das nur dann etwas, wenn sich anschließend etwas verbessert. In Kassel ist das nicht geschehen. Nun ist Irren menschlich. Aber das sture Beharren auf einem Irrtum und das Bedürfnis, ihn sogar zu wiederholen, ist eher irre.
Das Recht auf Irrtum gilt nicht nur für die deutsche Politik.
Natürlich haben nicht nur die Macher der documenta ein Recht darauf, sich zu irren. Dasselbe gilt auch für die Politik. Claudia Roth, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, hätte viel früher und energischer einschreiten müssen. Sie war gewarnt gewesen. Auch Olaf Scholz, der Bundeskanzler, hätte mehr tun können und müssen. Die Ankündigung, er werde die documenta diesmal nicht besuchen, war viel zu wenig. Bei Roth und Scholz darf man aber darauf hoffen, dass sie das Kasseler Schlamassel aufrichtig bedauern und entsprechende Lehren daraus ziehen werden.
skandal »Das hätte niemals geschehen dürfen«, betonte Bundespräsident Steinmeier am 5. September bei seiner Rede in München. Er meinte das Olympia-Attentat 1972. Natürlich, die documenta fifteen war weniger schlimm. Niemand kam dort ums Leben. Aber sie war trotzdem ein Skandal, der nachwirken wird. Und sie war ein Skandal mit Ansage.
Hier wie dort geht es nicht nur um staatliches Versagen. Zumindest sollte die Politik aber einsehen, dass sie eine Mitverantwortung trägt. Sie sollte sich entschuldigen, und das jetzt und nicht erst in 50 Jahren. Sie sollte Besserung geloben und es besser machen. Gerade anlässlich der Hohen Feiertage wäre das ein schönes Zeichen an die jüdische Gemeinschaft.
Der Autor ist Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).