Gemeinschaft

Einer für alle

von Rabbinerin Elisa Klapheck

Sündopfer, Schuldopfer, Ganzopfer – wir lesen in der Tora von unzähligen Opferarten, deren tieferer Sinn sich uns kaum noch offenbart. Im Wochenabschnitt Acharei Mot geht es um jene Sündopfer (chatat) und Ganzopfer (olah), die einstmals an Jom Kippur zu leisten waren. Erst sollten Aaron und seine Söhne einen Sündopferstier darbringen, sodann folgte das Doppelsündopfer der ganzen Gemeinde Israel: Die beiden Böcke (einer für Gott, der andere für Asasel), und schließlich brachten Aaron sowie die Gemeinde noch jeweils einen Widder als Ganzopfer dar.
Kehren wir an den Anfang des 3. Buches Moses (Wajikra) zurück, finden wir in den ersten Kapiteln eine Liste systematisch aufgezählter Opferarten, darunter zu Beginn die Ganzopfer und in den Kapiteln 4 und 5 die Sündopfer. Die Bezeichnungen deuten an, dass Ganzopfer für etwas Positives stehen, Sündopfer hingegen für Vergehen. Aber damit ist längst nicht alles gesagt.
Gerade anhand des Sündopfers lassen sich die Unterschiede zwischen den Opferarten besser verstehen. Es erhellt sich in ihm aber auch die besondere Verantwortungsethik des Judentums.
Die Tora behandelt die Wörter »Schuld« und »Sünde« verschieden. Beide sind von einer jeweils anderen Qualität und werden deshalb unterschiedlich gesühnt. »Schuld« entsteht durch die konkret begangene Tat, das persönliche Vergehen oder Verbrechen des einzelnen Menschen. Im Brennpunkt der »Schuld« steht der handelnde Täter, das Individuum. Auf ein Schuldopfer folgt jedoch stets noch ein Sündopfer. Denn »Sünde« ist etwas anderes als »Schuld«. Mit der »Sünde« meint die Tora denjenigen Aspekt der Vergehen und Verbrechen, der die Integrität oder Heiligkeit der ganzen Gemeinde und damit ihre Beziehung zu Gott beschädigt hat. Sünden können auch unbeabsichtigt (bischgaga), durch Irrtum, Fehleinschätzung und Nichtwissen entstehen. Die Ge- samtheit trägt sie, da nicht immer die Untaten ihrer einzelnen Mitglieder bekannt sind, oftmals nur unbewusst mit sich. Heute würden wir das mit »negativer Energie« bezeichnen. Man merkt, dass in einer Gruppe etwas nicht stimmt, aber keiner kann sagen, woher es kommt.
Den Wochenabschnitt Acharei Mot lesen wir auch an Jom Kippur. Heute opfern wir keine Tiere mehr zur Entsühnung. An die Stelle der Opfer sind die Gebete getreten. Sie atmen aber immer noch den Geist der alten Rituale. An Jom Kippur geht es nicht nur um die persönliche Schuld, sondern auch um den kollektiven Aspekt der Sünde, der Versündigung am Ganzen, das heißt den Anteil eines individuellen Vergehens, der die ganze Gemeinde ins Negative zieht, ihre Integrität beschädigt.
Entsprechend verstehen wir die Teschuwa an Jom Kippur als etwas, das wir gemeinsam tun, um die Gemeinde insgesamt zu entsühnen. Alle Bekenntnisse und Gebete der Liturgie sind in der kollektiven Wir-Form verfasst (»Wir haben gesündigt. Wir haben dies oder jenes getan ...«). Denn an Jom Kippur sollen die Sünden, die die ganze Gemeinschaft trägt, gesühnt werden. Zwar ist es hierfür notwendig, sich persönlicher Schuld bewusst zu werden. Doch ist persönliches Schuldbewusstsein nicht alleiniges Ziel der Läuterung. Die Teschuwa will eine kollektive Läuterung von den Sünden, die die Integrität, die Heiligkeit der Gemeinde insgesamt und damit ihr Verhältnis zu Gott beschädigt haben.
Auf das Sündopfer folgt in der Tora das Ganzopfer, sinnbildlich für zwei Stadien: Erst die kultische »Behandlung« der Sünden, danach ein Ritual für die wiedergewonnene Integrität, symbolisch ausgedrückt im Ganzopfer.
Der Umgang mit den Opfertieren gibt den Anthropologen bis heute viele Rätsel auf. Beim Ganzopfer brachte man das vollständige Tier auf dem Altar dar, beim Sündopfer jedoch nur ganz bestimmte innere Substanzen und Organe: den Talg (chelev), das Fett an Nieren und Eingeweiden, die Nieren selbst und das Netz der Leber. Den Rest des Tieres verbrannte man außerhalb des Lagers – sinnbildlich für das Negative, das aus der Mitte der Gemeinde hinausgeschafft werden sollte.
Anthropologen haben verschiedene Theorien entwickelt, was diese besonderen Körperteile symbolisieren. Der Talg trennt die Organe voneinander, ebenso das Netz der Leber. Sie stehen für die Unterscheidung. Die Nieren galten als Sitz des Gewissens. In Hebräisch heißen Gewissensbisse bis heute mussar klajot (Moral der Nieren). Die Leber (kawed) hat denselben Sprachstamm wie »Ehre« (kawod), aber auch »Schwere« (kowed). Als sich das Herz des Pharaos »verhärtete«, drückte die Tora dies mit einer Verbform der Buchstaben Kaf, Bet und Dalet aus – das Herz verwandelte sich in eine Leber.
So archaisch die Bestimmungen zum Sündopfer anmuten, stellen sie an uns die Frage nach der Verantwortung. Indem die Tora nuanciert zwischen »Schuld« als wissentlich begangenem Vergehen und »Sünde« als dem Aspekt einer Handlung, der Schaden an der Gesamtheit verursacht, erklärt sie jeden einzelnen Juden für die Integrität des ganzen Gemeinde Israel mitverantwortlich. Im Sündopfer begegnen wir den Ursprüngen einer Verantwortungsethik, die besagt, dass das eigene Tun, egal ob offen oder verborgen, ob beabsichtigt oder irrend, immer Auswirkungen auf das Ganze hat. Heute genau wie damals.

Die Autorin ist Rabbinerin der Gemeinde Beit Ha’Chidush in Amsterdam und des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.

Fernsehen

Mit KI besser ermitteln?

Künstliche Intelligenz tut in Sekundenschnelle, wofür wir Menschen Stunden und Tage brauchen. Auch Ermittlungsarbeit bei der Polizei kann die KI. Aber will man das?

von Christiane Bosch  21.04.2025

Reaktionen

Europäische Rabbiner: Papst Franziskus engagierte sich für Frieden in der Welt

Rabbiner Pinchas Goldschmidt, der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, würdigt das verstorbene Oberhaupt der katholischen Kirche

 21.04.2025

Berlin

Weitere Zeugenvernehmungen im Prozess gegen Angreifer auf Lahav Shapira

Der Prozess gegen Mustafa A. am Amtsgericht Tiergarten geht weiter. Noch ist unklar, ob am heutigen Donnerstag das Urteil bereits gefällt wird

 17.04.2025

Indischer Ozean

Malediven will Israelis die Einreise verbieten

Es ist nicht die erste Ankündigung dieser Art: Urlauber aus Israel sollen das Urlaubsparadies nicht mehr besuchen dürfen. Das muslimische Land will damit Solidarität mit den Palästinensern zeigen.

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Spenden

Mazze als Mizwa

Mitarbeiter vom Zentralratsprojekt »Mitzvah Day« übergaben Gesäuertes an die Berliner Tafel

von Katrin Richter  10.04.2025

Jerusalem

Oberstes Gericht berät über Entlassung des Schin-Bet-Chefs

Die Entlassung von Ronen Bar löste Massenproteste in Israel aus. Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem »Mangel an Vertrauen«

 08.04.2025

Würdigung

Steinmeier gratuliert Ex-Botschafter Primor zum 90. Geburtstag

Er wurde vielfach ausgezeichnet und für seine Verdienste geehrt. Zu seinem 90. Geburtstag würdigt Bundespräsident Steinmeier Israels früheren Botschafter Avi Primor - und nennt ihn einen Vorreiter

von Birgit Wilke  07.04.2025

Weimar

Historiker Wagner sieht schwindendes Bewusstsein für NS-Verbrechen

Wagner betonte, wie wichtig es sei, sich im Alltag »gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Muslimfeindlichkeit und gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« zu engagieren

 07.04.2025