von Rabbiner Shlomo Riskin
Was ist die hervorstechendste Eigenschaft des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet? Was macht die Stellung der Menschheit in dem äußerst komplexen Universum, das wir bewohnen, zu einer gesonderten, einzigartigen? Der Philosoph René Descartes lehrte: »Cogito, ergo sum« – »Ich denke, also bin ich«. Das Geschenk der Intelligenz also ist der wertvollste Besitz der Menschheit. Mein verehrter Lehrer Raw Joseph Baer Soloveitchik behauptete einmal, die menschliche Fähigkeit und die Notwendigkeit, Verantwortung für das eigene als auch für das Leben der Menschen um ihn herum zu übernehmen, sei der wichtigste Aspekt der menschlichen Persönlichkeit. Meiner Meinung nach jedoch ist es Aristoteles’ Definition des Menschen als geselliges Tier, das die Fähigkeit besitzt, mit anderen zu kommunizieren, die der biblischen Anschauung am nächsten kommt.
Ich möchte meine Analyse dieser wichtigsten Eigenschaft des menschlichen Charakters mit einem faszinierenden Kommentar von Rabbi Isaac Abrabanel (Spa- nien, 15. Jahrhundert) beginnen. Der Wochenabschnitt Bereschit, mit dem der jährliche Zyklus der Bibellektüre von Neuem beginnt, erzählt die Geschichte der Erschaffung Adams, des ersten Menschen, und Chawas aus Adams innerstem Selbst. »Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.« (1. Buch Moses 2,21). Dieser Erzählung schließt sich der Fall des Menschen an (Kapitel 3): Mann und Frau begehen ihre Sünde, indem sie von der Frucht des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse essen – wir erfahren nicht, was sie miteinander gesprochen haben, bevor sie der Verführung erlagen oder danach. Tatsächlich bringt Adam nur Schuldzuweisungen vor gegen »die Frau, die du mir bestellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen« (1. Buch Moses 3,12). Und an dieser Stelle folgt die Erzählung von der Strafe, die Gott über den ersten Mann und die erste Frau und dann über die Schlange verhängt.
Adam fährt fort, allen Geschöpfen der Welt Namen zu geben: »Und Adam nannte seine Frau Chawa (Leben), denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen« (Kapitel 3, Vers 20). Das hebräische Wort »chai« bedeutet Leben, doch Chawa könnte auch von einer ähnlichen, dennoch klar unterscheidbaren Wurzel abgeleitet sein. Abrabanel meint, es bedeute »Künderin«, eine Frau der Worte. Die Silbe taucht in Psalm 19,3 (»Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der andern kund«), in Hiob 36,2 und auch in unserer modernen Verwendung des hebräischen »mahwa«, einer verbalen Geste des guten Willens, auf. Und zweifellos besteht in linguistischer und ideeller Hinsicht eine Wechselbeziehung zwischen »chai« (Leben) und »chawa« (Kommunikation), wenn die Essenz des menschlichen Lebens tatsächlich in der Fähigkeit zu kommunizieren besteht.
Die Wechselbeziehung zwischen den beiden Ideen findet sich bereits in einem früheren Vers unseres Toraabschnitts: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (1. Buch Moses 2,7). Die Schilderung in der Bibel unterscheidet sich erheblich von dem Bild, das Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle von der Erschaffung des Menschen malte: Die Hand Gottes scheint die Hand des ersten Menschen zu berühren, Fingerspitze an Fingerspitze. Offenbar empfand Michelangelo, ein genialer Bildhauer und Maler, dass seine Kreativität aus seinen Fingern hervorging, und legte deshalb diese Macht der Hände auch dem Göttlichen bei.
Doch dies entspricht nicht dem biblischen Bild, das viel tiefgründiger ist. Der Sohar schreibt: »Jeder, der ausatmet, atmet die Essenz seines innersten Seins aus.« Als daher Gott bei der Erschaffung des Menschen dem Staub des Ackerbodens seinen Atem einhauchte, bedeutet das nichts anderes, als dass in den innersten Winkeln eines jeden Menschen ein Teil des Göttlichen, ein Funke Gottes wohnt. Dies ist die Eigenschaft des Ewigen im Menschen, die niemals dem Tod oder der Zerstörung anheimfällt. Es ist jener Teil der menschlichen Persönlichkeit, der ihn befähigt, zu schaffen, zu lieben, über sich hinauszustreben. Der Targum Onkelos übersetzt die beiden abschließenden Worte des Verses, »nefesch chaja«, mit »ruach memalela«, das heißt auf Deutsch »sprechender oder mitteilender Geist«. Anscheinend hat der Targum die innere Verbindung zwischen menschlichem Leben (chaja) und menschlicher Sprache (chawa) verstanden, zwei sehr eng zusammengehörige Verb- und Substantivformen.
Kein Wunder also, dass jener Teil des menschlichen Organismus, der die Sprache möglich macht, der Kehlkopf, anatomisch mit dem Teil des menschlichen Organismus verbunden ist, der uns zum At- men befähigt: der Luftröhre. Die menschliche Sprache und Kommunikation erwächst unmittelbar aus dem göttlichen Atem, der jeden Menschen erfüllt, der ihn befähigt, zu leben, und ihn als einen Schatten oder ein Bild Gottes (zelem Elohim) definiert. Und eben weil jeder von uns in sich einen Funken des Göttlichen trägt, ist jeder einzelne mit allen anderen in einer unentflechtbaren Einheit verbunden. Der Teil Gottes in uns macht uns wahrhaft zu einem Teil des Einen und zu einem Teil voneinander.
Und wenn wir miteinander verwandt sind, müssen wir zueinander in Beziehung treten, das heißt kommunizieren als liebende Verwandte, als Teil eines größeren Organismus, der Gott und die Menschheit vereint. Dies ist die tiefste Bedeutung des Verses »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr« (3. Buch Moses 19,18). Da Gott Teil jedes Einzelnen von uns ist, sind wir alle Teil voneinander und müssen daher in Liebe miteinander kommunizieren. Wenn wir das nicht lernen und praktizieren, gibt es keine Zukunft für die Menschheit.
Der Autor ist Kanzler von Ohr Torah Stone und Oberrabbiner von Efrat, Israel.
Bereschit: 1. Buch Moses 1,1 – 6,8