von Jürgen Vogt
Bunt geht es zu in den Straßen Larrea, Paso und Lavalle. In allen Farben quellen die Stoffe aus den Geschäften. Typisch Buenos Aires: Wo einer etwas verkauft, verkaufen alle das gleiche. Hier Stoffe. Um die Ecke gibt es die Straße runter nur Damenunterwäsche. Wieder um die Ecke: Dreihundert Meter Herrenkonfektion. Auch das ist das Once, der Stadtteil von Buenos Aires, den es offiziell nicht gibt.
Auf dem Stadtplan steht Balvanera. Aber das interessiert im Once niemanden. Once, das ist das nördliche Viertel um den Sackbahnhof Once de Septiembre. Am 11. September 1852 hatte sich Buenos Aires vom restlichen Argentinien losgesagt. Heute fahren von hier die Züge in die Provinz. Der Bahnhofsvorplatz trägt schon lange den Namen Plaza de Miserere.
»Reden wir vom jüdischen Leben im Once.« Moshe Korin ist Kultursekretär der AMIA, dem jüdischen Hilfswerk Asociación Mutual Israelita Argentina. Es war schon immer im Once. Moshe Korins Eltern kamen 1923 aus der Ukraine nach Buenos Aires. Zu Hause wurde jiddisch gesprochen. Hebräisch lernte er später in der Schule. »Im ganzen Viertel wurde damals jiddisch gesprochen, Hebräisch war die Sprache in der Synagoge.«
Anfang des letzten Jahrhunderts lebten rund 50.000 Juden in Argentinien, mehr als die Hälfte von ihnen im Once. Hier ließen sich die jüdischen Emigranten nieder. Hier war es erschwinglich, ein Häuschen zu kaufen, eine Werkstatt oder einen Laden einzurichten. Once lag in der Nähe der wichtigsten Straßen der Stadt. Ein Freund zog den anderen nach, eine Familie der nächsten. Sie bauten zuerst Synagogen, dann Schulen. In der Paso-Straße steht die zweitgrößte Synagoge der Stadt.
Viele der eingewanderten Juden kamen aus Lodz, dem polnischen Manchester. Als sie kamen, arbeiteten sie weiter als Schneider, eröffneten Textilfabriken. Später machten sie ihre Läden und Geschäfte im Once auf, handelten mit Stoffen und Bekleidung. Die Namen prangten in hebräischen Schriftzeichen und auf spanisch in den Schaufenstern.
Ende der 40er und in den 50er Jahren war die Zahl der Juden in Argentinien am größten. 500.000 lebten hier, davon 350.000 in Buenos Aires, knapp 100.000 von ihnen im Once. Hier gab es vier jüdische Theater, das Excélsior, das Soleil, das Ombu und das IFT. Inszeniert und gespielt wurde vor allem auf jiddisch.
Sonntagmorgens in den Straßen Corrientes zwischen Boulogne Sur Mer und Callao waren die jüdischen Cafés voll. In der Bar Léon wurde Domino gespielt. Der Duft von geräuchertem Fisch, Gurken und Hering lag in der Luft. Am Abend öffneten die jüdischen Varietés, wie La Moneda, die Castellibar und das Nueva York.
Das Viertel prosperierte und mit ihm seine Bewohner. Doch das Once war nie eine erstklassige Adresse. Wer es sich leisten konnte, zog in andere Viertel: nach Belgrano, Villa Crespo oder Flores. Damit verschwand das Jiddische aus dem Once. Auch die zwei Tageszeitungen in jiddischer Sprache, die im Once produziert wurden, gibt es nicht mehr: die Jiddische Zeitung, 1914 als israelitische, eher traditionelle Zeitung gegründet, und Di Presse, eher proletarisch, die seit 1918 von einer Kooperative herausgebracht wurde.
In Moshe Korins Erzählung lebt das jiddische Once wieder auf. Geblieben ist nur das Theater IFT in der Straße Boulogne Sur Mer. Aber auch hier wird nicht mehr auf jiddisch gespielt. Wo das Ombu war, ist heute die AMIA. In der Pasteur-Straße, damals Ombu-Straße. »Die AMIA hatte verschiedene Adressen, aber alle im Once. Man kaufte das Ombu-Theater, behielt im Erdgeschoß das Theater und baute darüber fünf, sechs Stockwerke.« Die Grundsteinlegung war 1942, drei Jahre später wurde das Gebäude eingeweiht.
Es stand bis zum 18. Juli 1994. An diesem Tag explodierte eine gewaltige Bombe am Gebäude. 85 Menschen wurden getötet, 300 verletzt, mehr als 400 umliegende Wohnungen und Geschäfte zerstört oder beschädigt. Das Attentat machte die AMIA weltweit bekannt, in der jüdischen Gemeinschaft löste es Angst aus. Als sich gegen Ende der 1990er Jahre die Wirtschaftskrise in Argentinien verschärfte, gab es eine Auswanderungswelle nach Israel. In den sieben Jahren zwischen dem Anschlag auf die AMIA und 2001 verließen rund 60.000 jüdische Familien das Land. »Wir hatten einmal eine Gemeinschaft von 500.000 Menschen, heute sind es zwischen 150.000 und 160.000«, sagt Moshe Korin von der AMIA. Heute ist sie der wichtigste Ort für kulturelle, jüdische Veranstaltungen im Once.
Mitte der 1970er Jahre hatte es schon einmal eine große Veränderung im Once gegeben. Asiaten, vor allem Koreaner begannen, sich im Viertel niederzulassen. Sie spezialisierten sich auf einfache und preiswerte Bekleidung, verkauften billiger als die jüdischen Ladenbesitzer und verdrängten die jüdischen Produzenten. Viele von ihnen wichen in den Stadtteil Flores aus.
Wer im Once koscher einkaufen will, hat in der Straße Boulogne Sur Mer die größte Auswahl. Bäckereien, kleine Supermärkte, Fleischereien, die Weinhandlung, das Eis zum Nachtisch, Pizza und Pasta – alles koscher. Im Once ist alles vorhanden. Auch ein koscherer McDonald’s. Es ist die einzige Filiale in Buenos Aires, die von Freitag auf Samstag geschlossen ist. Aber: »Das Once ist nicht das Brooklyn von Buenos Aires«, sagt Daniel Saltzmann von Radio Jai.
Routinierte Hektik herrscht im Studio von Radio Jai. »Ich gehöre wohl zur letzten Generation, die jiddisch spricht«, sagt Saltzmann auf spanisch. Seit 13 Jahren ist der heute 42jährige schon bei Radio Jai. Der Sender schlägt die Brücke zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der argentinischen Gesellschaft, zu den anderen spanischsprachigen jüdischen Gemeinschaften in der Welt und zu denen, die aus Argentinien weggegangen sind. In Buenos Aires über Antenne und weltweit über das Internet hört man Radio Jai.
Seit 1992 ist das Radio auf Sendung. Der Betrieb wurde wenige Monate nach dem Anschlag auf die israelische Botschaft aufgenommen. Auch dort war es eine Autobombe, 29 Menschen starben, 250 wurden verletzt. »Das Attentat hat allen klargemacht, daß es kein jüdisches Radio oder Fernsehen in Argentinien gab.« Jaim – Leben, jai – lebe: der Sender war eine Antwort auf das Attentat.
Von Beginn an hat Radio Jai ein 24-Stunden-Programm. »Wir machen ein Radio mit jüdischem Blickwinkel auf die Geschehnisse.« Gesendet wird in spanischer Sprache. Von 7 bis 10 Uhr gibt es Nachrichten, danach ein Magazin zu allgemeinen Themen und Musik. Die Musik ist ausschließlich jüdisch. Zwei Drittel in Hebräisch, ein Drittel in Jiddisch, Ladino, Englisch und Spanisch, aber immer jüdischen Ursprungs.
1994 dann der Anschlag auf die AMIA. Radio Jai erlebte einen großen Aufschwung. »Das war das erste Mal, daß Juden und Nichtjuden anfingen, Radio Jai zu hören. Wir merkten, daß die Hörer uns vertrauten. Und wir haben in dieser Woche gelernt, Radio zu machen«, erzählt Saltzmann. Heute schätzt er, daß ein Drittel der Hörer keine Juden sind.
Nachbar von Radio Jai ist die Volksküche Comedores Populares Israelitas Argentinos. Sie gibt es seit 1922. Am Nachmittag ist es ruhig und der Speisesaal leer, die Stühle sind bereits hochgestellt. Als Israelitische Volksküche (Cocinas Populares Israelitas) hatte man in den 20er Jahren angefangen, den jüdischen Einwanderern eine warme und koschere Mahlzeit zu geben. Schon damals kostenlos. 1947 zog die Küche ins Once. Als der Immigrantenstrom abriß, kamen die jüdischen Armen.
Norma Winter de Leibovish kennt die Entwicklung. 1960 hat sie im Comedor angefangen. Die Zahl der Gäste wuchs mit der Armut im Land. »Heute kommen auch Menschen, die im Once einmal gutgehende Geschäfte hatten, aber während der Krise verarmt sind.« Rund 100 finden Platz im Comedor, außerdem werden täglich gut 30 Essen ausgeliefert. »Vor zehn Jahren hatten wir täglich 70 Gäste. Heute ist der Speisesaal jeden Tag voll, und unsere Gäste sind deutlich jünger geworden.« In Argentinien lebt die Hälfte der 36 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Die Krise machte vor der jüdischen Gemeinschaft nicht halt.
Doch es geht friedlich zu im Viertel, bestätigt Ariel Sigal von der gleichnamigen Buchhandlung. Eingezwängt zwischen den glitzernden und jugendlich dynamischen Mode- und Sportgeschäften auf der lärmenden Corrientes-Straße, betritt man hier die jüdische Welt religiöser Bücher. Die Buchhandlung wird bereits in dritter Generation im Once geführt. Simon Sigal hatte sie 1926 eröffnet. Anfangs wurden hier auch Bücher in Jiddisch verkauft. Der Verkauf in Spanisch erfolgte ab der zweiten Generation. Heute führen die drei Enkel das Geschäft. »Wir verkaufen nicht nur Bücher, wir verlegen auch Toraausgaben und Siddurim«, sagt Ariel Sigal.
Und noch eine andere Veränderung hat es in den letzten 20 Jahren gegeben. Das religiöse Leben im Once ist gewachsen. »Aber nicht, weil die weltliche Gemeinde sich in eine religiöse verwandelt hat, sondern weil es generell eine Wiederbelebung der religiösen Gemeinschaften gegeben hat«, sagt Ariel Sigal.
Die meisten Juden im Once sind heute mit einer religiösen Gemeinde verbunden. Knapp 30.000 Orthodoxe leben im Viertel. Wegen der traditionellen Kleidung sind sie leicht erkennbar und prägen inzwischen das Straßenbild im Once. Für Ariel Sigal ist die jüdische Zukunft des Viertels damit gesichert: »Der orthodoxe Teil der jüdischen Gemeinschaft wird nicht wegziehen.«
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www.libreria-sigal.com
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