von Paul Spiegel
Es erscheint von fast symbolischer Bedeutung, daß der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und ehemalige Bundespräsident Johannes Rau am Holocaust-Gedenktag für immer Abschied von uns genommen hat. Wie kaum ein zweiter deutscher Politiker der Nachkriegszeit war Johannes Rau geprägt von dem Bemühen, sich der Verantwortung zu stellen, die seinem Land aus dem von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen am jüdischen Volk erwuchs.
Für den gläubigen Christen und Politiker, vor allem aber für den Menschen Johannes Rau war es eine selbstverständliche Pflicht, nicht nur an Gedenktagen Appelle gegen das Vergessen zu formulieren. Beständig mahnte er die Menschen, die Erinnerung an das Unfaßbare wachzuhalten, er bat um Mithilfe bei der Bekämpfung antisemitischer Vorurteile und trat bis an sein Lebensende für Toleranz, Integration und ein friedliches Miteinander der Völker, Kulturen und Religionen ein. Johannes Rau war Vorbild in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und wurde dadurch von der Bevölkerung als moralische Instanz wahrgenommen.
Wenn also zukünftig am 27. Januar in Deutschland nicht nur der Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung gedacht wird, sondern sich auch der Worte und des Engagements von Johannes Rau erinnert würde, wäre dies ein wichtiger, zukunftsweisender Beitrag zur kritischen Beschäftigung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Johannes Raus Hoffnung, sein lebenslanges Eintreten für die deutsch-jüdische Aussöhnung möge über seinen Tod hinaus zur Nachahmung anspornen und zur Zurückdrängung des Antisemitismus beitragen, könnte auf diese Weise ein Stück weit in Erfüllung gehen.
Es ist in hohem Maße auch dem Einsatz von Politikern wie Johannes Rau zu verdanken, daß ein Teil der nach dem Ende des Krieges aus den Todeslagern oder ihren Verstecken zurückgekehrten Juden Deutschland nicht verließ. Daß ihm die Ehre zuteil wurde, als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der Knesset zu sprechen, war auch ein Anerkenntnis dieses Engagements. Stellvertretend für die Generation der Täter bekannte er sich in seiner bewegenden Rede zur deutschen Schuld und verneigte sich sinnbildlich vor den Toten und den überlebenden Opfern des Holocaust. Eine Geste, die auch aus seiner Sicht schon viele Jahre zuvor hätte erfolgen können. Es spricht für den 1995 mit dem Leo-Baeck-Preis ausgezeichneten Johannes Rau, daß er sich über die auch 55 Jahre nach Kriegsende noch immer in Deutschland existierenden Vorbehalte hinwegsetzte und in aufrichtiger Demut seine Hand in Richtung des jüdischen Volkes reichte. Sein Auftritt war um so glaubwürdiger, als er mit seinen vielen Reisen nach Israel nicht nur versuchte, zur Aussöhnung beizutragen, sondern in den Gesprächen mit Verantwortlichen auf israelischer und palästinensischer Seite stets als ehrlicher Makler eines gerechten Friedens in der Region auftrat. Er nutzte jede ihm sich bietende Gelegenheit, um mäßigend auf die Konfliktparteien einzuwirken und aller Hilflosigkeit zum Trotz Zeichen gegen das sinnlose Blutvergießen zu setzen.
Für die Juden in Deutschland und Israel bedeutet der Tod von Johannes Rau einen großen Verlust. Mit unserem letzten Gruß sind Dank und Respekt für seine treue Freundschaft und seinen kundigen Rat verbunden. Aber auch das Versprechen, lautstark einzufordern, daß seine Mahnungen und Appelle beherzigt werden.