von Erich Rathfelder
Das Foto des bärtigen Radovan Karadzic ist in Sarajewo an allen Ecken und Enden zu sehen. Auch eine Woche nach der Verhaftung des 13 Jahre lang untergetauchten ehemaligen Serbenführers ist er Aufmacher aller Zeitungen und Zeitschriften, die sich darin zu übertrumpfen suchen, eigene Geschichten über die Umstände der Verhaftung dem Publikum aufzutischen. In den Publikationen tauchen Zeugen auf, die ihn vor Jahren dort oder da gesehen haben wollen. Nur einer weigert sich, über Karadzic zu reden.
Eli Tauber ist ein bekanntes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Sarajewo. Der Publizist und Forscher sowie Leiter des Projekts zur »Untersuchung, Auffindung und Systematisierung historischen Materials über die jüdische Geschichte in Bosnien und Herzegowina« gibt sich reserviert am Telefon. »Über Radovan Karadzic sprechen will ich nicht, ich spreche überhaupt nicht über die politische Lage in Bosnien und Herzegowina.«
Dennoch lädt er freundlich zum Gespräch ein. Vor den Türen des jüdischen Zentrums und der Synagoge in Sarajewo stehen keine Polizisten. Die Türen sind offen. Der Portier schaut lediglich unwillig auf, weil er durch den Eintretenden bei der Lektüre von Zeitungen gestört wird. »Eli Tauber sitzt im Garten mit den Amerikanern.« Er macht sich nicht einmal die Mühe, den Eintretenden näher zu fixieren oder gar die Tasche zu untersuchen. Durch einen voll besetzten Speisesaal gelangt man in den Garten. Von einem Tisch umringt von jungen Besuchern aus New York erhebt sich der Mittfünfziger mit breitem Lachen. »In Zagreb und Belgrad hat die jüdische Gemeinde Polizeischutz, hier brauchen wir das nicht«, grüßt Tauber.
Die Juden Sarajewos fühlen sich sicher in einer Stadt, in der immerhin mindestens 85 Prozent der Bewohner Muslime sind. »Wir sind in der Stadt integriert«, sprudelt es aus Eli Tauber. »Ich habe kürzlich im Rahmen einer Kulturwoche die ›Neue sefardische Küche‹ vorgestellt. Das war ein Riesenerfolg.« Manche älteren Leute »kennen noch einige unserer sefardischen Lieder und haben sie spontan mitgesungen.« Früher stellten die Juden ein Viertel der Bevölkerung der Stadt. Bis die Nazis 1941 kamen. Heute zählt die Gemeinde noch rund 800 Mitglieder.
Viele Juden verließen 1992 Sarajewo, als der Belagerungsring der von Radovan Karadzic und Ratko Mladic befehligten Truppen geschlossen wurde. Die Serben ließen die Juden aus der Stadt ziehen. Auch viele nichtjüdische Bewohner Sarajewos sind damals mit jüdischen Papieren aus der Stadt geflohen. Juden halfen so Muslimen und anderen Bürgern, ihr Leben zu retten.
»Ich war damals in Israel und habe natürlich meine Papiere auch zur Verfügung gestellt«, erzählt Eli Tauber schmunzelnd. So flohen weit mehr Menschen aus der Stadt, als es dort Juden gab. Männer wie der Vorsitzende der Gemeinde, Jakob Finci, blieben jedoch. Und halfen, die durch jüdische Organisationen gespendeten Hilfsgüter an die Bevölkerung »gleich welcher Religion« zu verteilen. Das hat natürlich zu dem bis in die Gegenwart reichenden hohen Ansehen der jüdischen Ge- meinde in Sarajewo beigetragen.
»Zufrieden können wir trotzdem nicht sein.« Eli Tauber regt sich nun doch etwas auf. Nach dem Friedensabkommen von Dayton 1995 seien nur die sogenannten konstitutiven Nationen, die Bosniaken, Serben und Kroaten, als staatstragende Nationen anerkannt worden. Die auf dem Abkommen beruhende Verfassung diskriminiere Minderheiten. So könne zum Beispiel Jakob Finci nicht in den Präsidentschaftsrat des Staates gewählt werden, dies sei den konstitutiven Bevölkerungsgruppen vorbehalten. Was gegen internationales Recht verstoße. Jakob Finci hat beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg Klage eingereicht. Das Verfahren läuft noch.
Ein Jude Präsident von Bosnien und Herzegowina? Das käme einer Sensation gleich. Ein Jude wäre Staatschef eines mehrheitlich muslimischen Bevölkerung mit starken orthodoxen und katholischen Bevölkerungsanteilen. Doch ganz so abwegig ist die Idee nicht. In Sarajewo gab es eine ernsthafte Debatte über diese Möglichkeit. Denn die Juden Bosniens werden als neutral angesehen. »Immerhin ist der Außenminister Bosniens und Herzegowinas, Sven Alkalaj, ein Jude«, sagt Eli Tauber.
Und so wehren sich Sarajewos Juden. Sie wollen nicht Minderheit sein, die zusammen mit den anderen Minderheiten des Landes weniger Rechte hat als die konstitutiven Nationen. Und da sie an diesem Punkt die Verfassung von Dayton infrage stellt, ist die jüdische Gemeinde Motor einer Debatte, die politisch hoch brisant ist. Denn der Kompromiss von Dayton garantiert die bisherige Teilung Bosniens und Herzegowinas entlang ethnisch-religiöser Linien in zwei Entitäten: die Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation. Und sie garantiert die Herrschaft nationalistischer Parteien in Bosnien. Müsste das Land seine Verfassung ändern, entstünde eine andere Lage. Somit ist die Position der jüdischen Gemeinden in Sarajewo, Mostar, Zenica, Doboi, Banja Luka und Tusla hoch politisch.
»Bosnien und Herzegowina ist auch unser Staat. Aber wir reden nicht über Politik«, betont Eli Tauber nochmals. »Ich bin auch Journalist, mich kriegen Sie nicht zu politischen Statements.« Lieber will er über die Finanzierung weiterer Projekte im kulturellen und sozialen Bereich reden. Das Goethe-Institut, die Heinrich-Böll- und die Adenauer-Stiftung hätten schon einiges dazu beigetragen. Die Zusammenarbeit sollte fortgesetzt werden.
Und dann spricht Tauber doch über Karadzic. Vor 30 Jahren arbeitete er mit dem jetzt Festgenommenen in einer Kommission über Erziehungsfragen zusammen. »Karadzic war damals sehr an diesem Problem interessiert, er hatte ja zwei Kinder.« Damals hätte er sich nie vorstellen können, welche Rolle Karadzic später einmal spielen würde. Er sei nicht besonders auffällig gewesen. »Es gab überhaupt keinen Grund für diesen Krieg, denn alle Menschen lebten friedlich zusammen.« Der Krieg habe nicht nur das Land zerstört, er habe auch in seinem privaten Leben tiefe Spuren hinterlassen. »Unsere Familie wurde auseinandergerissen.« Ein Sohn lebt jetzt in Israel, ein anderer in Spanien, seine Frau in den USA. »Ich habe wegen Karadzic hier in Sarajewo keine Familie mehr.«
Dann steht er auf und geht zurück zu den Amerikanern. Ihnen will er den jüdischen Friedhof zeigen. Und die mehr als 500 Jahre währende Geschichte der Juden in Sarajewo nahebringen.