von Marc Hasse
Er würde den Artikel gern lesen, bevor dieser erscheine, sagt Mark Zaurov zu Beginn des Gesprächs. Nein nein, keine schlechten Erfahrungen mit Journalisten bisher, aber hinterher stünden im Text vielleicht doch Sätze wie »die armen Gehörlosen, die kommen nicht zurecht in der Welt, die haben es so schwer«. Das wolle er nicht, kein Mitleid bitte, auf gar keinen Fall. Andererseits können die Dinge nicht so bleiben wie sie sind, er hat einiges auf dem Herzen, er möchte das veröffentlicht wissen.
Zaurov ist von Geburt an gehörlos, doch er hat es weit gebracht: Er beherrscht die deutsche, israelische und die amerikanische Gebärdensprache; außerdem schreibt und liest er Deutsch, Hebräisch und Englisch. Obwohl er in seiner Jugend zuerst Gehörlosenklassen besuchte und dann die Realschule, machte er Abitur und studierte in Hamburg Pädagogik, Geschichte und Gebärdensprachen. Zur Zeit arbeitet er an seiner Doktorarbeit.
Der 33jährige stammt aus Moskau. Seine Familie wanderte nach Israel aus, noch bevor er das Kindergartenalter erreicht hatte. Sieben Jahre lebte die Familie in Haifa, 1981 kamen sie nach Deutschland.
Wenn Mark Zaurov heute über seine Kindheit und Jugend spricht, tut er das mit einem Lächeln. Er schaut fast spitzbübisch drein, als würde ihn alles im Rückblick amüsieren. Er erzählt, daß so mancher Mitschüler in der Realschule der Meinung war, »wer die Gebärdensprache benutzt, ist doof«, daß ihn in Frankfurt ausländische Mitschüler anfeindeten und ihm Prügel androhten, weil er aus Israel kam, daß nichtjüdische Deutsche »verkrampften«, wenn er sich als Jude zu erkennen gab.
Es ist schwer zu sagen, was bedrückender gewesen sein muß: kaum etwas zu verstehen in der Welt der Hörenden oder von den Hörenden nicht verstanden zu werden – auf sprachlicher wie auf menschlicher Ebene. Es läßt verständlich werden, warum er sich heute so darum sorgt, richtig verstanden zu werden.
Wie sehr Zaurov die früh erlebten Benachteiligungen und Diskriminierungen auch als Erwachsenen noch beschäftigen, zeigt sich unter anderem daran, daß er sich in seiner Magisterarbeit mit der Situation gehörloser Juden beschäftigte. Damit kann er jetzt auf der Grundlage empirischer Daten darstellen, mit welchen Problemen diese »doppelte kulturelle Minderheit«, wie er sie nennt, zu kämpfen hat.
Ausgangspunkt ist laut Zaurov ein Identitätskonflikt: Sollen sich gehörlose Juden der Gehörlosengemeinschaft zuwenden oder der jüdischen Gemeinde? In der Gehörlosengemeinschaft fühlten sie sich zwar als Gehörlose verstanden, nicht aber als Juden. In die jüdische Gemeinde wiederum könnten sie sich nur schwer integrieren, weil sie oft nicht als Juden sozialisiert wurden: Viele der etwa 100 in Deutschland lebenden gehörlosen Juden kommen aus Rußland oder aus osteuropäischen Ländern, wo lange Zeit kein Judentum praktiziert wurde.
Zaurov behalf sich während seiner Kindheit mit Bilderbüchern, in denen er die jüdische Geschichte und die Lehre des Judentums kennenlernte.
Am jüdischen Leben teilzunehmen, sei für gehörlose Juden aber auch deshalb schwierig, weil die jüdische Kultur besonders stark vom Vorlesen lebt, von der Musik, vom Singen, sagt Zaurov. Ob in der Gemeindesitzung oder in der Synagoge – ohne Übersetzung in die Gebärdensprache verstünden Gehörlose meistens nichts.
Seit Jahren versucht der junge Mann, diese Situation zu verbessern. Dazu hat er im Jahr 2001 die »Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland« gegründet. Er wünscht sich, daß die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) Workshops durchführt, um die Bedürfnisse von Gehörlosen zu verstehen und diese besser beraten zu können. Er wünscht sich, daß Gemeindesitzungen oder andere Veranstaltungen in Gebärdensprache übersetzt werden, wenn Gehörlose daran teilnehmen wollen. Und natürlich wünscht er sich, es gäbe auch in Deutschland Rabbiner, die die Gebärdensprache beherrschen. Doch bisher sei keine seiner Ideen umgesetzt worden, klagt Zaurov. »Ich bin enttäuscht und mit meiner Kraft langsam am Ende.«
Gemeinsam mit Mitstreitern in anderen Ländern bereitet Mark Zaurov derzeit den 6. Internationalen Kongreß zur Gehörlosengeschichte vor. Der findet vom 31. Juli bis 4. August an der Berliner Humboldt-Universität statt. Hier soll es unter anderem auch um die bisher kaum erforschte Geschichte gehörloser Juden gehen. Zaurov hat dazu zwei gehörlose Auschwitz-Überlebende eingeladen. Gefördert wird der Kongreß vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Aktion Mensch.
Der Kongreß sei für jüdische Gehörlose eine große Chance, sagt Zaurov. »Wer sich bis jetzt nicht getraut hat, zum Judentum zu stehen, weil er Angst vor Diskriminierungen hat oder sich unwissend fühlt, der kann hier einen Anfang machen und Kontakte knüpfen.«