von Miryam Gümbel
Wißbegierig und zugleich fast ein wenig betäubt von der Fülle und Komplexität des Themas machten sich die Besucher nach dem Vortrag von Dan Diner im Literaturhaus auf den Heimweg. Denn der Abend, zu dem Literaturhandlung und B’nai B’rith eingeladen hatten, war weit mehr als eine Präsentation des im vergangenen Herbst erschienenen Buches Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt.
Der Historiker, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem und Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, geht in diesem Buch den Ursachen für die Jahrhundertkrise in den arabischen Ländern nach. Zwischenzeitlich hat sich die Weltlage allerdings noch weiter zugespitzt. Dan Diner bezeichnete sein Buch als ein »paradoxes Produkt«, recherchiert in den siebziger und achziger Jahren, im vergangenen Jahr geschrieben. Wie aktuell es ist, sagte Gastgeberin Rachel Salamander, war da noch gar nicht abzusehen.
Der Abend zeigte, daß genau das den Wert des Buches ausmacht. Denn es liefert die Hintergründe, die historischen Grundlagen zum Kennen- und Verstehenlernen der im Westen weithin unbekannten und damit unverstandenen islamischen Welt.
»Jahrzehntelang haben wir daran gearbeitet, die Last des Nationalsozialismus in den Griff zu bekommen, jetzt exportiert der Nahe Osten altbekannte Vorstellungen und Antisemitismus nach Europa. Wir sind herausgefordert. Das Abendland muß darauf bestehen, daß Islam und Demokratie keine unvereinbaren Gegensätze sind.« Mit diesen Worten umriß Dan Diner das aktuelle Dilemma, bevor er Schritt für Schritt den roten Faden seines Buches aufrollte.
Die Reaktionen auf die Behandlung der Gefangenen in Abu Ghraib und Guantanamo sowie die aktuellen Ereignisse in Frankreich zeigten deutlich die Unterschiede zwischen der westlichen Welt und der des Islams. Auf der einen Seite werde die Verletzung der Menschenrechte angesprochen, etwas, was jeden einzelnen Menschen betrifft. Auf der anderen Seite sehe man darin ein Sakrileg, ein Vergehen gegen den Islam.
Geopolitik und Glaubenswelten prallten im Nahostkonflikt aufeinander. Auch die Politik der Hamas werde durch die Auffassung genährt, daß die bloße Anwesenheit der Juden eine Provokation und Herausforderung sei. Das Wachsen solcher Auffassungen, die historischen Hintergründe, das Auseinanderdriften von Abendland und Nahem Osten, den Stellenwert von Sakralsprache und den Einfluß des Buchdrucks auf die Säkularisierung im Westen, all das beleuchtet Diner. Er habe die Hoffnung, daß es noch Raum gebe für Kompromisse, betont der Historiker.
Auch wenn ein Diskurs heute schwieriger sei als noch vor 40 Jahren, Dan Diner stellte in der Diskussion ganz vehement klar: »Ich halte es für falsch, von den Konflikten der Kulturen zu sprechen. Es gibt ein genügend großes Potential an säkularisierten Menschen. Unsere Aufgabe ist es, mit diesen Personen im Westen und in der arabischen Welt den Dialog zu führen. Wir haben gar keine andere Möglichkeit, als diesen Diskurs zu führen. Beide Welten rücken immer enger zusammen. Wir werden uns dabei auch unserer eigenen Kultur und unserem eigenen Säkularisierungsprozeß noch einmal zuwenden müssen.« Einen Hinweis, daß die Hoffnung auf solch einen Diskurs durchaus realistisch ist, sei die Tatsache, daß sein Buch auch auf arabisch publiziert werden soll.
Bei der Frage nach dem Antisemitismus verwies Diner einmal mehr auf die Aufklärung. Der moderne Antisemitismus sei, zunächst im 19. Jahrhundert, Ausdruck eines Schocks in der Gesellschaft gewesen, in der die Menschen ihr verändertes Leben nicht mehr verstanden haben. Die unmittelbare Reaktion darauf – und das gelte auch für unsere Gesellschaft – »ist das, was wir als Verschwörungstheorie bezeichnen«. Diese Haltung, so Diner weiter, »entdecken wir jetzt weltweit, vermutlich durch die Globalisierung hervorgerufen. Die Juden müssen dafür herhalten.« Hier schlage die Aufklärung zurück.
Für die Muslime bedeute das eine ganz besondere Herausforderung, vor allem was Israel angehe. Dabei, so Diners Antwort auf den Einwurf nach der Notwendigkeit eines interreligiösen Dialogs, begreife er »die Frage nicht als eine religiöse, sondern als eine Frage der Entwicklung und Modernisierung«.