Pogromnacht 1938

Ein Tag im November

von Miryam Gümbel

»Helene Strauss wohnte zuletzt in der Trogerstraße 44, wurde 1943 im Alter von 44 Jahren nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Lilly Weinmann wohnte in der Grillparzerstraße ...« Fast zwei Stunden lasen Jugendliche in fast allen Stadtbezirken die Namen der während der NS-Zeit ermordeten Juden. Jeder der Anwesenden kannte die Straßen, war sich bewusst, dass es Nachbarn waren, deren Verschwinden jeder hatte bemerken müssen. Dass mit dieser Form des Gedenkens von den Initiatoren, darunter die Israelitische Kultusgemeinde und der Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie schon vor Jahren ein würdiger und angemessener Weg eingeschlagen wurde, bestätigte eine Geste am Rande. Eine Zeitzeugin, 1938 gerade mal 12 Jahre alt und selbst nach Theresienstadt deportiert, dankte den Lesern »Der 9. November 1938 war der sichtbarste Meilenstein auf dem grausamen Weg zur Vernichtung des europäischen Judentums«, unterstricht IKG-Vizepräsident Nathan Kalmanowicz bei der Gedenkstunde in der Synagoge. Wie tief sich die Bilder und die seelischen Verletzungen in das Leben der Menschen eingeprägt haben, war auch in den Worten von Präsidentin Charlotte Knobloch zu spüren. Mit der Verleihung der Ohel-Jakob-Medaille an den früheren Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und Münchens Oberbürgermeister Christian Ude fand das Miteinander seinen Ausdruck. »Wir ehren mit Edmund Stoiber und Christian Ude zwei Männer, die für uns zugleich jene neue, judenhistorisch revolutionäre bundesdeutsche Staatlichkeit verkörpern«, erklärte Michael Wolffsohn vom IKG-Vorstand in seiner Laudatio. »Eben eine deutsche Staatlichkeit, die uns Juden gegenüber Menschlichkeit, Partnerschaft und, ja, Freundschaft verkörpert.« Die Ehrung war zugleich Dank für die Unterstützung der beiden Politiker beim Bau des neuen Gemeindezentrums. Charlotte Knobloch habe immer an die Realisierung des neuen Zentrums im Herzen der Stadt geglaubt, hatte Gemeinderabbiner Steven Langnas bei der Begrüßung in der Synagoge betont. Das Überleben des Judentums unterstrich Israels Oberrabbiner Yonah Metzger mit einem eindrucksvollen Bild: Während Bücher und Menschen brannten, flogen die Buchstaben durch die Luft. Die Buchstaben, die Träger der Worte der heiligen Schriften und damit der jüdischen Tradition, konnten durch die Jahrhunderte hindurch nicht vernichtet werden. Vor dem Tora-Schrein in der Synagoge erhielten Stoiber und Ude ihre Auszeichnungen. Stoiber sagte in seiner Dankesrede: »Es ist für mich ein Wunder, dass wir 70 Jahre nach den verbrecherischsten und menschenfeindlichsten Anschlägen hier stehen, in enger Verbundenheit und Freundschaft.« Christian Ude sprach von der »wunderbaren Chance« nach einer schrecklichen Vergangenheit hier eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln. Auch Moris Lehner vom Vorstand der IKG hatte diesen Abend als »Beginn einer verheißungsvollen Zukunft« bezeichnet. Bei allem Miteinander ist jedoch nach wie vor Wachsamkeit notwendig. IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch warnte bei den Feierstunden mehrfach vor den Gefahren und der immer stärker werdenden Präsenz Rechtsextremer.
Trauer und die Erinnerung an die Opfer der Schoa bleiben Gegenwart. Wolffsohn machte dies in seinem Festvortrag deutlich: »Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen um ihre Kinder, denn sie sind dahin«, zitierte er aus Jeremias, 31, 15. Die Gegenwart in der Erzählform, so der Historiker, betone das Gegenwärtigsein von Vergangenem. Und das gelte auch für das Gedenken an die Opfer der Schoa. Das Miteinander in Erinnerung und Gegenwart unterstrichen 70 Jahre nach der Reichspogromnacht Jugendliche aus dem Luitpoldgymnasium während der Feierstunde in der Staatskanzlei. »Wer Zukunft gestalten will, der muss es tun im Bewusstsein seiner ganzen Geschichte«, hatte Ministerpräsident Horst Seehofer dort in seiner Ansprache gesagt und die Verpflichtung betont: »Unsere Jugend ist unsere Zukunft. An sie müssen wir unsere Geschichte unverfälscht und ungeschönt weitergeben.« Josef Schuster vom Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden unterstrich die Notwendigkeit historischen Lernens: »Wissen und Erinnerung sind dasselbe.«
Bei der Gedenkstunde der Stadt München ging Andreas Heusler vom Stadtarchiv auf die Art und Weise ein, in der die Münchner das Geschehen der Nacht vom 9. auf den 10. November aufgenommen hatten. Selbst Betroffenheit habe bei der Mehrheit keine öffentliche Reaktion ausgelöst – eine Mahnung zur Wachsamkeit und zum Engagement für heute. Dass die Stadt München ihre Gedenkstunde in genau dem Saal abhielt, in dem 70 Jahre zuvor der Aufruf zur Zerstörung und Brandschatzung von Synagogen und jüdischem Besitz und zur Auslöschung jüdischen Lebens ausging, war ein später Triumph über das mörderische NS-Regime. Dass hier Kantor Ezra Meyer das El mole rachamim im Gedenken an die Toten der Schoa vortrug, unterstrich dies beeindruckend. Und dass die Kirche, die vor 70 Jahren weitgehend geschwiegen hatte, nach dem Festakt im Alten Rathaussaal die Glocken der ältesten Münchner Kirche St. Peter läuten ließ, war ein Zeichen, für das Charlotte Knobloch dem Erzbischof Reinhard Marx dankte. Da war es kein Bruch, wenn zum Abschluss des Tages Vizepräsident Abi Pitum im Namen der Kultusgemeinde mit dem Verweis auf die wichtigen Elemente jüdischen Lebens wie Trauer, Erinnerung und Leben die Gäste zu einem gemeinsamen l‹Chaim – zum Leben – in den Hubert-Burda-Saal einlud.

Kultur

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