von Axel Seitz
Der Bohrer brummt kaum hörbar, während er sich langsam in die Erde frisst. Etwas Wasser sprudelt aus dem vielleicht 30 Zentimeter breiten Bohrloch – der erste Pfahl wird in den Boden versenkt. Gleichzeitig mit dem Pfahl wird flüssiger Beton in die Erde gepumpt. Kein großer Auflauf, kein Bauschild, kein Spatenstich – der Baubeginn der neuen Synagoge in der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern verläuft von der Öffentlichkeit unbemerkt auf dem Hinterhof des Jüdischen Gemeindezentrums in Schwerin.
Zwei Mitarbeiter einer Spezialtiefbaufirma setzen die ersten von insgesamt 19 Pfählen, die in einer Tiefe von 14 Metern auf dem geologisch betrachtet wackligen Untergrund die Grundlage für die neue Synagoge bilden werden. Landesrabbiner William Wolff kommt an diesem sehr sonnigen 8. Mai gerade von einer Gedenkveranstaltung aus Anlass des 63. Jahrestags des Kriegsendes in Deutschland, zugleich feiert der Staat Israel seinen 60. Geburtstag, während in Schwerin die künftige Synagoge ihre Geburtsstunde erlebt: »Es ist beinahe überwältigend die ganze Symbolik dieses Tages. Dieser Baubeginn ist wunderbar und ein ungeheures Privileg dabei zu sein.« Der 81-jährige Rabbiner darf sich besonders über die anstehenden Bauarbeiten freuen, wird er doch aus seiner Wohnung den besten Blick darauf haben, wie sich in den kommenden Wochen und Monaten die Baustelle verändert.
Es ist ein ehrgeiziges Vorhaben, das die Jüdische Gemeinde Schwerin in Angriff nimmt. Bis zum Jahrestag der Pogromnacht 1938 im kommenden November soll die neue Synagoge auf den Fundamenten der alten stehen und ein Zeichen setzen. In jener Nacht vor sieben Jahrzehnten randalierten auch auf dem Hof in der Schweriner Schlachterstraße braune Horden. Am nächsten Tag stand in der NS-Parteizeitung, dass die Synagoge »unbrauchbar gemacht wurde«. Wegen der Enge auf dem Gelände und der vielen Fachwerkgebäude um die Synagoge herum, scheuten die Nazis allerdings einen Brand. In den darauffolgenden Wochen und Monaten musste das Gotteshaus abgerissen werden.
Der Direktor des Stadtarchivs, Bernd Kasten, vermutet, dass eine Baufirma das Gebäude abtrug und der damaligen jüdischen Gemeinde die Kosten dafür in Rechnung stellte. Genaue Unterlagen finden sich nicht mehr. Überhaupt existieren nur wenige Anhaltspunkte für die von den Schweriner Juden erbauten Synagogen. Die erste, ein offenbar sehr schlichter Fachwerkbau, wurde 1773 geweiht, ungefähr ein halbes Jahrhundert später baute die jüdische Gemeinde eine neue Synagoge. Zwar wird dieser Bau auf das Jahr 1819 datiert, Stadtarchivar Bernd Kasten bezweifelt das aber, da er Quellen von 1825 gefunden hat, in denen von Bestellungen von Bauholz die Rede ist. Eindeutig belegt hingegen ist der Umbau der damaligen Synagoge 1866. Ein einzig erhaltenes Foto gibt einen Einblick in das Gebäude, das besonders durch die neuen orientalischen Motive beeindruckte.
Während der Bauvorbereitungen in den vergangenen Wochen konnten Archäologen im Erdreich einige Bodenfliesen sichern, die unschwer auf diesem Foto der Innenansicht der Synagoge zu entdecken sind. Zugleich wurden Reste einer schwarzen Gedenkplatte gefunden (vgl. Jüdische Allgemeine vom 17. April). Stadtarchivar Bernd Kasten konnte inzwischen die Identität dieser Platte klären. In der Mecklenburger Zeitung vom 15. April 1884 wird berichtet, dass die »hiesige israelitische Gemeinde eine dem Andenken des hochseligen Großherzogs geweihte Gedenktafel von poliertem schwarzen Marmor« in Auftrag gegeben hatte – und zwar zum einjährigen Todestag des Mecklenburgischen Großherzogs Friedrich Franz II. Gedenkplatte und Bodenfliesen sollen in die neue Synagoge integriert werden.
Auch symbolisch soll das neue Gebäude den Bogen zu den beiden Vorgängerbauten schlagen, wird die neue Synagoge doch genau auf den noch vorhandenen Fundamenten der ehemaligen Synagogen errichtet. Den Großteil der Baukosten trägt das Land, es stellt 600.000 Euro bereit, die Stadt übernimmt die Baubetreuung, Gemeinde und Förderverein werden sich an der Innenausstattung beteiligen. Der schlichte, geschlossene Kubus mit einer Grundfläche von ungefähr 14 mal 14 Metern soll nach der Fertigstellung Platz für rund 100 Personen zu den Gottesdiensten bieten. Für die Schweriner Gemeinde mit ihren mehr als 1.000 Mitgliedern ist der vor sechs Jahrzehnten als Provisorium eingerichtete Betraum im Gemeindenzentrum seit Langem viel zu klein. Wenige Tage vor dem jetzigen Baubeginn sei eine Schulklasse mit 45 Kindern zu Gast gewesen, erzählt Valerij Bunimov vom Gemeindevorstand: »Die Jugendlichen wollten wissen, wie viele Menschen freitags zum Schabbat-Gottesdienst kämen. Als wir antworteten, ungefähr so viele, wie Schüler jetzt hier sind, wunderten sich die Kinder, denn sie konnten sich nicht alle setzen.«
In einem halben Jahr kann, wenn die Bauarbeiten im Plan bleiben, der erste Gottesdienst in der neuen Synagoge gefeiert werden – 70 Jahre nachdem die alte Schweriner Synagoge geschändet und zerstört wurde. Und selbst wenn das Gotteshaus noch nicht ganz fertig sein sollte, Rabbiner William Wolff würde sich schon über ein Dach auf dem Haus freuen, um zumindest die Gedenkveranstaltung aus Anlass der Pogromnacht 1938 im neuen Haus begehen zu können.