von Ingrid Hilgers
Es war ein bewegender Moment. Unter feierlichen Klängen trugen Mitglieder der Liberalen Jüdischen Gemeinde am vergangenen Sonntag drei Torarollen zum Aron Hakodesch der neuen Synagoge in Hannnover-Leinhausen. Einige Gäste umarmten sich spontan und hatten Freudentränen in den Augen. Als einen großen historischen Tag bezeichnete die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Ingrid Wettberg, die Eröffnung der neuen Synagoge im Gemeindezentrum »Etz Chaim«, Baum des Lebens. Gleichzeitig wurde der neue Gemeinderabbiner Gabor Lengyel eingeführt (siehe Text unten). Auf dieses Ereignis habe die Gemeinde lange hingearbeitet, sagte Wettberg.
Viel Prominenz war zu dem vierstündigen Festakt nach Hannover gekommen. Unter ihnen Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff, Prinz Alexander Schaumburg zu Lippe, Oberbürgermeister Stephan Weil, der Präsident der Region Hannover, Hauke Jagau, Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch, die evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann, der katholische Bischof Norbert Trelle, viele Rabbiner sowie Yoram Ben-Zeev, Botschafter des Staates Israel in Deutschland.
Auch die Hannoveraner wollten die Eröffnung des jüdischen Gemeindezen- trums miterleben. Viele Gäste konnten den Festakt nur über eine Videoleinwand im Veranstaltungsraum mitverfolgen.
Kinder aus dem jüdischen Kindergarten schwenkten beim Einzug der Torarollen selbst gebastelte Fähnchen und sangen hebräische Lieder. Der Chor der Gemeinde trat unter der Leitung von Irina Chernyak auf. Kantor Yuval Porat sowie die Kantorin Mimi Sheffer sangen für die 500 geladenen Gäste. Eine gefühlvolle und feierliche Atmosphäre verbreitete sich unter den Anwesenden. Immerhin hatten die rund 600 Mitglieder der größten liberalen jüdischen Gemeinde in Deutschland seit Jahren diesem Moment entgegengefiebert.
Fast 15 Jahre lang fand das religiöse Leben in nüchternen Büroräumen statt. Jetzt hat die Gemeinde »ein Stück Heimat« gefunden. »Für uns ist das Gemeindezentrum ein Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich ist«, sagte Katarina Seidler, Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen. Sie freue sich darüber, dass der neue Rabbiner, der zuvor acht Jahre ehrenamtlich für die Gemeinde tätig war, nun offiziell in sein Amt eingeführt werden konnte. Er wird alle religiösen Aktivitäten der Gemeinde begleiten, vor allem einmal monatlich die Kinder in der Kindertagesstätte besuchen.
Landesrabbiner Henry G. Brandt rief die Anfänge der Liberalen Jüdischen Gemeinde ins Gedächtnis. Er erinnerte an die kleine Frauengruppe, die eineinhalb Jahrzehnte einen steinigen Weg gegangen sei, ge- meinsam studierte und die Kenntnisse des Judentums vertiefte. »Ich bin stolz auf euch, ihr habt ein wunderbares Werk vollbracht«, rief er den Pionierinnen zu. Das neue Zentrum mache deutlich, dass das Judentum in Deutschland angekommen sei.
Auch die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschlands, Charlotte Knobloch, stimmte es zuversichtlich, dass in Deutschland wieder Synagogen eingeweiht werden. »Die Umwandlung einer Kirche in eine Synagoge ist in einem Land, in dem die Schoa stattgefunden hat, ein Signal zur Versöhnung«, sagte sie. Die Einweihung des neuen Gemeindezentrums mache den Wunsch nach Rückkehr jüdischen Lebens deutlich. Wie gut das neue Gemeindezentrum bereits angenommen werde, erläuterte sie an dem Beispiel eines Ehepaares, das schon viele Jahre verheiratet ist und sich in der neuen Synagoge nachträglich den Hochzeitssegen geben ließ. In Anspielung auf den Namen des Zentrums »Etz Chaim«, Baum des Lebens, wünschte Charlotte Knobloch: »Möge der Baum des Lebens reife Früchte tragen.«
Nach Bielefeld wurde mit der Hannoveraner Synagoge zum zweiten Mal in Deutschland eine Kirche in ein jüdisches Gotteshaus umgewandelt. Die Liberale Jüdische Gemeinde hatte von Anfang an den Dialog und den Konsens mit allen Be- teiligten gesucht. »Wir wollen ein modernes, offenes und einladendes Haus sein«, betonte die Vorsitzende Ingrid Wettberg.
Vor rund zweieinhalb Jahren hatte die Liberale Jüdische Gemeinde die evangelische Gustav-Adolf-Kirche gekauft und nach ökologischen Kriterien zu einem Gemeindezentrum mit Synagoge umgebaut. Den Architekten Roger Ahrens und Gesche Grabenhorst ist es dabei gelungen, eine außergewöhnliche sakrale Stimmung zum Ausdruck zu bringen. Raumproportionen, Material, Licht- und Farbgebung verbinden gekonnt Moderne und Tradition. Die Ge- staltung beeindruckt durch einfache Strukturen: Die weiß verputzten Wandflächen und dunkle Natur- und Werksteinböden wirken schlicht und elegant.
An den Kosten von rund 3,2 Millionen Euro beteiligten sich das Land Niedersachsen mit einer Million Euro, die Stadt Hannover und die Region mit jeweils 500.000 Euro. Den Rest bringen die Gemeinde und Sponsoren auf. Zum 3.600 Quadratmeter großen Zentrum gehören die Synagoge, Kindergarten und Jugendzentrum sowie eine Beratungsstelle für Zuwanderer und eine Bibliothek, die auch Nichtmitglieder nutzen können. Darüber hinaus steht jetzt ein großer Veranstaltungsraum sowie ein Gemeindecafé zur Verfügung.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges habe es in Hannover nur noch 20 Juden gegeben, sagte Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil. Heute seien es mehr als 5.000. »Es ist ein Wunder gelungen, aus dem noch vorhandenen Funken mehr zu machen.« Der Oberbürgermeister dankte Ingrid Wettberg: »Dieses Haus ist auch Ihr Haus.« Landesbischöfin Margot Käßmann sagte, die Kirche habe in der Nazizeit oft nur tatenlos zugesehen. »Wir als Christen haben als Nachbarn versagt.« Gotteshäuser seien Räume, so die Landesbischöfin, in denen Gefühle leicht verletzt werden könnten. Der Liberalen Gemeinde sei es gelungen, mit dem Umbau der Gustav-Adolf-Kirche in ein Gemeindezentrum sensibel und einfühlsam umzugehen. Dafür sei sie zutiefst dankbar.
Im Vorfeld herrschte bei den Organisatoren große Anspannung, ob sich auch alle Gäste wohlfühlen könnten. Die Sorge erwies sich als unbegründet. Nach dem Festakt gab es ausschließlich positive Stimmen: »Wir sind von dem aufgeschlosse- nen Geist der Liberalen Gemeinde sehr beeindruckt«, sagte ein Ehepaar aus Hannover anerkennend. Ein anderes fühlte sich so wohl, dass es bald wiederkommen und bei Gelegenheit an einem jüdischen Gottesdienst teilnehmen will.
Alla Volodarska, die Sozialarbeiterin der Gemeinde, ist glücklich und erleichtert, dass alles so gut verlaufen ist. Sicherheitsvorkehrungen und die Festaktvorbreitungen waren eine große logistische Herausforderung. Als die Torarollen dann in die neue Synagoge getragen wurden, habe sie gerührt gedacht: »Endlich haben wir ein eigenes Heim für unsere Seele.«