von Daniel Jütte
Alles quillt. Diese Alltagsphilosophie zieht sich durch Siegfried Kracauers Romane Ginster und Georg. Kartoffeln quellen aus einem Riesenkübel, Betrachtungen quellen über und tropfen dann. Die Wirklichkeit, wie Kracauer sie beschreibt, ist feucht, klebrig und riecht nach angebrannter Suppe. Nie hat man die angeblich goldenen Zwanziger Jahre schäbiger gesehen.
Siegfried Kracauer (1889 - 1966) kennt man vor allem als Kultursoziologen und Filmkritiker. Ginster erschien zuletzt 1963 bei Suhrkamp, in einer Fassung, die Theodor Adorno liebevoll um das letzte Kapitel verstümmelt hatte. In einem Literaturlexikon aus dieser Zeit heißt es über das Buch: »Vorgeführt wird die Auflösung des bürgerlichen Subjekts.« Doch man täte Kracauers Belletristik Unrecht, läse man sie nur als kritische Theorie der Frankfurter Schule, in Prosa gesetzt. Kracauers Romane bieten im Übermaß, was man an zeitgenössischer deutscher Literatur mitunter mit der Lupe suchen muß: Humor und Sprachkraft.
Ginster spielt in einer Heide-Kleinstadt, angelehnt an Osnabrück, wo Kracauer die Kriegsjahre verbrachte. Dem unbeholfenen Jungarchitekten Ginster ist es während des Ersten Weltkriegs auf fast chaplineske Weise gelungen, dem Frontdienst zu entgehen. Stattdessen arbeitet er im Stadtbauamt, wo er auch die Novemberrevolution erlebt. Die revolutionären Forderungen der Provinzler sind simpel: Von den heiligen Kühen des untergehenden Kaiserreichs soll nur die Milchkuh des Oberbürgermeisters geopfert werden: »,Die Kuh heraus‹, brüllte das Volk.« Ansonsten beherrschen Opportunismus und Heuchelei die Szene. Mit einem Soldaten-Ehrenfriedhof, den Ginster entwirft, zieht der Chef seines Architekturbüros eine lukrative Ausschreibung an Land – die Gräberbreiten sind besonders präzise berechnet.
Mit opportunistischen Vorgesetzten hat es auch Georg zu tun, der Held des gleichnamigen zweiten Romans, dessen Geschichte in gewisser Weise dort ansetzt, wo Ginster endet: Der rote Faden ist Kracauers eigenes Leben, das in beiden Romanen deutlich durchschimmert. Georg drängt es mit jugendlichem Ausdruckswillen an die Öffentlichkeit. Die linksliberale Zeitung Der Morgenbote bietet ihm ein Forum. Doch Georg wird vom Journalismus abge- und von seinen hehren Idealen verbrüht, und landet schließlich auf der Straße. Die Gesellschaf, deren Querschnitt die Zeitungsredaktion widerspiegelt, rückt immer mehr nach rechts, gerät in den Sog von Krediten und Parolen. Kein Zweifel, daß dieser »Roman aus der deutschen Republik«, so der von Kracauer zeitweise erwogene Untertitel, ein Erfolg geworden wäre, wenn besagte Republik zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Buchs noch existiert hätte. So fiel das Schicksal des Romans mit dem Ausblick seines letzten Kapitels zusammen: »Der Leser merkt aus der apokalyptischen Beschreibung der dunkelnden Stadt, daß ein gewaltiger Sturm die im Roman dargestellte Welt vernichten wird.«
siegfried kracauer: werke band 7. romane und erzählungen
Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005, 630 S., 72 €