Junifeldzug 1967

»Ein Krieg aus dem Bauch heraus«

Herr Segev, was unterscheidet Ihr Buch »1967. Israels zweite Geburt« von den vielen anderen Büchern, die bereits über den Sechstagekrieg veröffentlicht wurden?
segev: Zunächst einmal die Auffassung, dass es sich nicht um einen, sondern um drei verschiedene Krieg handelte: Gegen Ägypten, gegen Jordanien und gegen Syrien. Der Krieg gegen Ägypten war wahrscheinlich unvermeidbar, und zwar aus anderen Gründen, als bislang angenommen. Schon anderthalb Jahre vor Kriegsbeginn war die israelische Gesellschaft in psychologischer Hinsicht sehr, sehr schwach gewesen. Als die Krise im Mai 1967 ausbrach, war Israel zu schwach, um nicht zu den Waffen zu greifen. Der Grund sind die Holocaust-Ängste der Israelis. Mir liegen Hunderte von Briefen vor, die Israelis damals an Verwandte und Freunde in den USA geschickt haben. Aus diesen Briefen geht ganz klar hervor, dass die Menschen wirklich ehrlich geglaubt haben, dass Nasser einen zweiten Holocaust über sie bringt. Aus dieser Schwäche heraus glaubten sie auch, dass diese Krise nur durch einen Schlag gegen Ägypten zu lösen war. Wenn sie stärkere Nerven gehabt hätten, wenn sie eine stärkere politische Führung gehabt hätten, dann wäre die Krise mit Ägypten anders zu lösen gewesen. Wir wissen gar nicht, ob Nasser damals wirklich vorhatte Israel anzugreifen. Aber ob er es wirklich vorhatte oder nicht – wichtig ist, dass man es hier glaubte.

Israel sah den Erstschlag gegen Ägypten als einzige Lösung?
segev: Ja, darauf beruhte die ganze Strategie der israelischen Armee: Wer als Erster zuschlägt, hat den Krieg gewonnen. Deswegen hat die Armee immer nachdrücklicher darauf gedrängt, endlich zu handeln. Die Generäle waren der Auffassung, dass die Politiker Israel gefährdeten. Das war natürlich auch ein Generationsproblem: die »Neuen Hebräer« in der Armee gegen die »Alten Juden« in der Regierung. Wenn Yitzhak Rabin sich aufmachte, um mit der Regierung zu sprechen, sagte er zu den Generälen: »Ich gehe zu den Juden.« Und Ministerpräsident Levi Eschkol sagte dann auf Jiddisch: »Die Preissn kommen.« Die Atmosphäre war sehr gespannt, sehr nahe an einer militärischen Machtübernahme. Ein General hat sogar vorgeschlagen, die Regierung in ein Zimmer zu sperren und über das Radio zu verkünden, dass der Krieg begonnen habe. Dieser General war Ariel Scharon. Doch Rabin hat nicht mitgemacht. Und dann wurde der Krieg gegen Ägypten im Erstschlag, innerhalb von 90 Minuten, gewonnen.

Als wenige Stunden später Jordanien Israel angriff, war Israel also bereits nicht mehr wirklich gefährdet?
segev: Ja, als der Krieg gegen Jordanien begann, bestanden diese existenziellen Ängste nicht mehr. Als Antwort auf den jordanischen Angriff hätte man es damals bei der Zerstörung der Armee, der Vernichtung der Luftwaffe oder auch der Demütigung des Königs belassen können. Ich kann beweisen, dass es nicht im nationalen Interesse Israels war – so wie man es damals verstand – die Westbank zu erobern. Ende 1966 oder Anfang 1967 hatten der Chef des Mossad, der Chef der militärischen Abwehr und wichtige Leute aus dem Auswärtigen Amt unter dem Eindruck der aus Jordanien ständig einsickernden palästinensischen Terroristen überlegt, ob das eventuell im Interesse Israels sein könnte. Man kam zu dem Schluss, dass das nicht im Interesse Israels sei. Dann kam der 5. Juni und alle rationalen Überlegungen waren vergessen! Aus irrationalen, nicht aus strategischen Gründen, beschloss die Regierung, die gesamte Westbank zu besetzen. Die Überlegungen, dass es eben nicht im nationalen Interesse war, die Westbank zu erobern, waren noch immer relevant, nur waren sie plötzlich vergessen!

Man hoffte auf israelischer Seite, die eroberten Gebiete später gegen Frieden eintauschen zu können.
segev: Da hat man sich eben geirrt. Mit der Besetzung der Gebiete hat Israel nichts gewonnen. Sadat hätten wir 1979 sagen sollen: Wenn du Frieden willst, musst du auch Gasa übernehmen. König Hussein von Jordanien hätten wir dasselbe sagen sollen. Hussein ging als Mann des Friedens in die Geschichte ein, und wir stecken noch immer in der Westbank fest.

Und Jerusalem? Hätte Israel auf die Vereinigung der Stadt verzichten sollen?
segev: Wenn man die Kabinettsprotokolle liest, wundert man sich, dass nicht ein einziger Minister nachgefragt hat, ob es überhaupt im Interesse Israels war, Ostjerusalem einzunehmen. Denn wenn man Jerusalem einmal erobert hat, kann man es nicht mehr zurückgeben. Wenn man Jerusalem erobert, dann bedeutet das, dass es keinen Frieden geben wird, also dass Jerusalem wichtiger als der Frieden ist.

Konnte man das damals schon wissen?
segev: Ich glaube gar nicht, dass die damals so weit gedacht haben! Es geschah alles aus dem Bauch, aus dem Herzen heraus. Es war ihnen alles so klar, wie nur eine Fantasie klar sein kann.

Die faszinierendsten Passagen Ihres Buchs beruhen auf Dokumenten, die bislang noch nicht zugänglich waren, etwa die Protokolle der israelischen Kabinettssitzungen. Wie sind Sie an das Material herangekommen?
segev: Israelische Beamte haben die lobenswerte Eigenschaft, dass sie geheime Dokumente mit nach Hause nehmen und nicht wieder zurückbringen. Israelische Historiker werden oft an ihrer Fähigkeit gemessen, relevante Witwen zu finden. Und das ist mir ziemlich gut gelungen.

Gab es keine Probleme damit, dass Sie nicht freigegebenes Material verwenden?
segev: Was die Öffnung der Archive betrifft, verfolgt Israel eine eher liberale Politik. Einige Dokumente wurden sogar freigegeben, nachdem ich sie veröffentlicht hatte. Aber ich habe auch ein interessantes Dokument gefunden, das bereits freigegeben war – das Kriegstagebuch Yigal Yadins, der damals Ministerpräsident Eschkols Berater war. In diesem Kriegstagebuch berichtet Yadin, dass Schimon Peres zwei Tage vor Kriegsausbruch vorschlug, einen Atomwaffentest durchzuführen, um so durch Abschreckung einen Krieg zu vermeiden. Peres war gegen den Krieg. Da kam also die Zensur zum Verlag und sagte, dass ich das nicht veröffentlichen dürfe. Wir sagten: »Das stammt aber aus einer freigegebenen Akte!« »Sie war freigegeben«, sagte man uns, »jetzt ist sie es nicht mehr.« Schließlich durfte ich Yadins Bericht übernehmen, aber ohne Quellenangabe.
Wer war Ihrer Ansicht nach der militärische Architekt des Sieges? Mosche Dayan, der Verteidigungsminister, oder Yitzhak Rabin, der Generalstabschef?
segev: Ich würde sagen: Dayan. Mosche Dayan hat der Armee in psychologischer Hinsicht ungeheuer geholfen. Es ist militärisch fast nichts geschehen, ohne dass Dayan nicht zugestimmt hätte.

Trotzdem kommt Dayan in ihrem Buch nicht sehr gut weg. Warum?
segev: Dayan war ein ziemlich übler Politiker, niemand, den man als politischen Führer haben möchte. Dayan ging ohne Loyalität durchs Leben. Wenn man das weiß, dann begreift man auch, warum er am Abend die Regierung davon überzeugt, die Golanhöhen nicht zu erobern und sieben Stunden später, ohne jemanden zu fragen, die Armee in den Golan schickt. Ich glaube nicht, dass es irgendjemandem schon gelungen ist, die Person Dayan wirklich zu erklären. Dayan ist ein ungeheuer spannendes Rätsel, das irgendwer einmal lösen wird.

Wo steht Israel heute, vierzig Jahre nach dem Sieg?
segev: 1967 ist das längste Jahr unserer Geschichte, es dauert noch immer an. Dieselben Diskussionen, derselbe Konflikt, ein Jahr ohne Ende. Es besteht theoretisch natürlich immer noch die Möglichkeit, die Gebiete gegen Frieden zu tauschen. Auf dem Papier ist alles möglich – in der Realität nichts mehr.

Das Gespräch führte Christian Buckard.

tom segev: 1967. israels zweite geburt
Übersetzt von Helmut Dierlamm, Hans Freundl, Enrico Heinemann
Siedler, Berlin, Mai 2007, 796 S., 28 €

Tom Segev stellt kommende Woche in Berlin und München sein Buch dem deutschen Publikum vor:
11. Juni, 20 Uhr, Jüdisches Museum Berlin
12 Juni, 19 Uhr, Jüdisches Museum München

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