Jom Kippur zählt gemeinsam mit Rosch Haschana in unserer Tradition zu den Jamim Noraim, den Tagen der Ehrfurcht. »Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Ewigen« (3. Buch Moses 16,30).
Franz Rosenzweig, der bedeutende jüdische Philosoph des 20. Jahrhunderts, machte uns mit einigen Besonderheiten dieser Tage in seinem Werk Stern der Erlösung bekannt. Er weist darauf hin, dass nur an diesen Festtagen zu beobachten ist, dass Juden in der Synagoge niederknien. Sie vollbringen damit gerade das, was Juden stets jedem Weltenherrscher in der Geschichte, vom Perserkönig bis zu den römischen Imperatoren, verweigert hatten. Das Niederknien in der Synagoge ist etwas, was keine irdische Macht von ihnen erwarten konnte und womit sie selbst ihrem Gott an allen anderen Tagen des jüdischen Jahres nicht dienen.
Man kniet in den Synagogen am Jom Kippur nicht während der üblichen Litanei des »Widduj«, des Sündenbekenntnisses. Auch nicht beim Erflehen der göttlichen Vergebung, obwohl dies das Wesentliche der Inhalte dieses Tages ist. Juden knien bei einem Teil der Festtagsliturgie nieder, wenn sie meinen, in die Allgegenwart Gottes schauen zu dürfen. Sie knien in dem Augenblick dieses Tages, von dem sie erhoffen, dass dieser sie aus ihrer irdischen Hinfälligkeit und Fehlbarkeit emporheben könnte.
Um Sündenvergebung beten wir nicht an Schabbattagen, an jenen erhabensten und häufigsten Festen des Jahres. Denn mit dem Schabbat paaren sich die Freude und das Gedenken an die Schöpfung, wie auch der schöpferischen Unterbrechung der Werktage. Jom Kippur, der Versöhnungstag hingegen, wird Schabbat Schabbaton, höchster Schabbattag, genannt. Durch das Gedenken an jene Zeremonien im einstigen Jerusalemer Tempel erreicht der Beter in der Synagoge an diesem Tag das Empfinden der Allgegenwart seines Gottes. In der Gemeinschaft lebt am Jom Kippur der einstige, priesterliche Gottesdienst wieder auf. Insbesondere der Augenblick, an dem der Kohen Gadol, der Hohepriester, dies einzige Mal im Jahr den Namen Gottes im einstigen Heiligtum in Jerusalem aussprach, den man sonst nur in Attributen erwähnen durfte. Unsere Vorfahren im Bet Hamikdasch warfen sich auf die Knie. Dieser klassische Gottesdienst (die Awoda) nährt unsere Hoffnung, dass sich am Ende der Zeiten alle Menschen allein Gott unterwerfen mögen und jegliche Formen der menschenverachtenden Götzendienste, die Anbetung von trügerischen Verführern, schwinden werden.
Wir beten für diese Hoffnung und Zukunftserwartung, ohne andere zu bekehren, damit ein Bündnis mit dem Schöpfer die Menschen vereine, um Seinen Willen zu tun. Dies sagen die Gebete des langen Tages aus, und daher knien einmal im Jahr die Besucher unserer Gebetshäuser nieder. Diese Stimmung vertiefen auch viele Psalmgesänge der Heiligen Schrift.
Im aschkenasischen deutschen Ritus bilden insbesondere am langen Fasttag Jom Kippur die Slichot, die Bußgebete, einen festen Bestandteil des Gottesdienstes. Die Pijutim, in dichterischer Form abgefasste Gebete, beinhalten Bitten und Flehen um Vergebung der Verfehlungen. Die Bußgebete stammen aus dem gefühlten Bedürfnis, Reue und Umkehr der bußfertigen Seele näherzubringen. Die Fastenliturgie wird noch durch Psalmen und Litaneien ergänzt. Die Bußgebete begann man am Sonntag vor dem Rosch-Haschana-Fest, noch im Morgengrauen täglich in den Synagogen zu sprechen. Ab dem frühen Mittelalter verfassten »Pajtanim«, die Dichter und Gelehrte waren, Slichot-Bußgebete. Heute noch bereichern die Slichot durch ihre dichterische Sprache wie auch ihre Rhythmen und Melodik unsere Gottesdienste.
Es liegt vielleicht an der Erhabenheit und Transzendenz des Jom-Kippur-Tages, dass er uns die ewige, endzeitliche Erlösung näherrücken will, sie gegenwärtiger, zeitlicher erscheinen lässt. Auch daher nennen wir diese Tage, Rosch Haschana und Jom Kippur, Jom Hadin: Zeitpunkt des Urteils unseres Gottes über uns. Somit steht das endzeitliche Urteil, das jüngste Gericht, nun gegenwärtig vor uns. Und dieses Urteil, oder dieser Prozess, um mit Franz Kafka zu sprechen, wird über den Einzelnen gefällt. Das Schicksal des Individuums wird gemäß seiner Handlungen bemessen: am Ende des alten, zu Beginn des neuen Jahres! So müssen wir das Jahr, ein jedes Jahr unseres Lebens, als gerechten Teil unserer »Ewigkeit«, als »(Stell-)Vertreter der Ewigkeit« gelten lassen.
Franz Rosenzweig betont, dass mit der jährlichen Wiederkehr des »Jüngsten Gerichts«, Jom Kippur, eigentlich die Ewigkeit von ihrem »jenseitigen Fernsein« befreit wird. Sie rückt in greifbare Nähe für den Einzelnen und gleichzeitig erfasst sie das Individuum, den Menschen. Für diesen Tag steht das »Ich« im Mittelpunkt. Wir werden aus der wechselnden Geschichte des »Ewigen Volkes« herausgeholt. Damit keiner von uns sich hinter der Geschichte verbergen kann. Über den Einzelnen wird unmittelbar geurteilt. Auch dann, wenn er am Jom Kippur in und mit seiner Gemeinschaft da steht. Jedoch als Einzelner betet er vor seinem Schöpfer um die Vergebung seiner individuellen Verfehlungen. Es stellt für uns auch keinen Widerspruch dar, dass der Machsor, das Festtagsgebetbuch, allerlei Vergehen in ihrer erschütternden Aufzählung in Kollektiv-Form, im Plural aneinanderreiht. Franz Rosenzweig meint, dass damit auch die verborgenen Kammern der Seele beleuchtet werden, um das Bekenntnis der zutiefst individuellen Fehler ans Tageslicht zu bringen.
Als ein Zeichen der Widduj-Zeremonie, der Bekenntnisse der Verfehlungen, pflegt man mit der Faust, mit der geschlossenen Handfläche, auf die eigene Brust zu schlagen. Dies kann auch so verstanden werden, dass wir uns im Laufe des Jahres oft als Selbstschutzmechanismus angeeignet haben, mit erhobenem Finger auf andere als wahre Schuldige zu zeigen, diese zu ermahnen oder gar anzuklagen. Am Jom Kippur inmitten der Gemeinde weisen alle fünf Finger zu einer Faust vereint auf uns selbst. Wir wollen bei uns selbst beginnen.
Eine Stelle des Talmuds (Ber. 34 b) wird an diesem Tag häufiger erwähnt. Rabbi Chijja bar Abba sagte im Namen Rabbi Jochanans: Sämtliche Propheten haben nur über die Bußfertigen geweissagt, von den vollkommenen Gerechten aber heißt es (beim Propheten Jesaja 64,3.) »Es hat außer Dir, Oh Gott, sie kein anderes Auge gesehen«. Es wird auch gesagt: »Wo die Bußfertigen stehen können, vermögen auch die vollkommenen Gerechten, die ›Superfrommen‹ nicht zu stehen …« Und ein mittelalterlicher Gelehrter meinte: Wenn jemand behaupten sollte, keine Sünde begangen zu haben, so ist zu befürchten, dass an ihm etwas noch Schlimmeres haftet: der Stolz! Diesen soll der Jom-Kippur-Tag in der Gemeinschaft zerstreuen, weil der Stolz sehr oft unsere aufrichtigen Beziehungen zueinander zerstört, und uns selbst einbilden lässt, dass wir die Makellosen wären, obwohl wir alle gerade deshalb auf das Erbarmen Gottes angewiesen sind.