Was bleibt von einem Bundeskanzler? Neben den politischen Erfolgen – und noch viel mehr: den Niederlagen – ganz sicher auch die jeweilige Persönlichkeit, das Auftreten des Regierungschefs.
Helmut Kohl polterte und pfälzerte anderthalb Jahrzehnte als »ewiger Kanzler« durch die Geschichte der Bundesrepublik. Er war Machtmensch und Menschenfänger zugleich.
Sein Nachfolger Gerhard Schröder wurde »Acker« genannt: wenn es sein musste, durchsetzungsstark und ruppig, laut und aggressiv, bei seinen Anhängern als gesellig, kumpelhaft und volksnah geschätzt. Als »Nah bei de Leut« galt der Sozialdemokrat, bevor er sich irgendwann in Brioni-Anzügen ablichten ließ, Zigarren paffte und vom Kreml Millionen für Lobbydienste kassierte.
Angela Merkel dagegen war lange Zeit die Frau ohne Eigenschaften. Wurde sie doch einmal mit Adjektiven versehen, dann allenfalls mit diesen: bodenständig, seriös, verbindlich. Dabei wussten Vertraute der Ex-Kanzlerin immer schon, dass die Politikerin durchaus Humor hat. Unvergessen im Kanzleramt sollen ihre Louis-de-Funès-haften Imitationen des französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy sein.
250 Grundschüler applaudierten lautstark und sangen berührend die wochenlang einstudierten Chanukkalieder.
Und Olaf Scholz? Nun, dem Kanzler ist es gelungen, was lange Zeit unmöglich schien: nämlich das unscheinbare öffentliche Image der Ex-Kanzlerin noch einmal zu überbieten. Der Hamburger SPD-Politiker gilt als Inbegriff des Technokraten; als einer, der Akten frisst, jede Vorlage und jedes Detail seines Arbeitsbereiches – als Bundeskanzler also: alles – aus dem Effeff kennt.
Lieder Wie würde er sich also an diesem Montagmorgen in der Berliner Grundschule Heinz Galinski geben – das war die große Frage unter den Hauptstadtjournalisten. Scholz gilt als Politiker, dem sogenannte bunte Termine samt Begegnungen mit Kindern nicht eben liegen.
Doch er absolvierte den Auftritt zur Überraschung vieler heiter und für hanseatische Verhältnisse fast ausgelassen. Mit grauem Anzug und schwarzer Kippa auf dem Kopf betrat Scholz die weiß-blau geschmückte Aula, 250 Grundschüler applaudierten lautstark und sangen berührend die wochenlang mit ihren Lehrern einstudierten Chanukkalieder. »Maos Zur«, »Ner Li. Ner Li«, »Sewiwon Sow Sow Sow«.
Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, brachte es in seiner Begrüßungsrede auf den Punkt: »Ihr Kinder seid so lieb und süß, ihr seid zum Aufessen!« Joffe würdigte, dass der Bundeskanzler an diesem Morgen ausgerechnet diese Schule besuchte, um mit den Schülern Chanukka zu feiern. Und in der Tat war es ein Novum: Noch nie nahm ein Kanzler an einer Chanukka-Feier einer Schule teil.
Der Kanzler schmunzelte erst und öffnete dann das Geschenk.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, erklärte, der Besuch des Bundeskanzlers sei »ein einzigartiges Zeichen Ihrer Person und Ihrer Verbundenheit mit uns, dem deutschen Judentum«.
Zugleich warnte Schuster den Regierungschef aber auch: »Es wird für Sie kein einfacher Besuch heute, die Schüler sind sehr kritisch. Aber das sind sie ja von der einen oder anderen Sitzung Ihrer Partei und SPD-Parteitagen gewohnt«, so Schuster launig.
Es sei für ihn ein ganz besonderer Tag, betonte Scholz denn auch auf der Bühne im Gespräch mit den Schülern Diana und Chaim. Dass es »wieder blühendes jüdisches Leben« in Deutschland gibt, ist ein Geschenk und ein Wunder, wenn man bedenkt, welch unermessliches Leid Deutsche jüdischen Familien zugefügt haben«, sagte er.
Die Chanukka-Tradition sei »wunderbar, weil sie Licht in die Dunkelheit bringt, wie die Kerzen an Adventskränzen und Weihnachtsbäumen«, sagte Scholz. Dies habe besonders im Winter große Bedeutung. Er fand einen kindgerechten Ton, bedankte sich für das Engagement der Jüdischen Gemeinde und der Schule für ukrainische Flüchtlinge. »Ihr habt sie aufgenommen, spielt Fußball oder tauscht Karten, so freundet man sich an und lernt voneinander«, sagte Scholz, an die Schüler gewandt. »Dies ist ein Zeichen dafür, dass man sehr viel schaffen kann, wenn man es gemeinsam anpackt.«
Dann entzündete er gemeinsam mit Rabbiner Yitshak Ehrenberg, dem achtjährigen Chaim und der Viertklässlerin Diana die erste Kerze an dem glänzenden Leuchter auf der Bühne.
Der Kanzler wurde auch beschenkt. »Chanukka gibt es bekanntlich immer Geschenke«, sagte Diana. »Und darüber freuen sich Kinder am meisten«, so Chaim – und fügte hinzu: »Wir wissen, wie schwer es ist, ein Geschenk zu bekommen und es nicht zu öffnen. Sie dürfen daher von der Bühne gehen und es aufmachen.«
Der Kanzler schmunzelte, mit einem breiten Grinsen setzte er sich und öffnete das Geschenk – eine kleine Chanukkia. »Chanukka sameach, Herr Bundeskanzler«, schmetterten die 250 Schüler unisono, bevor Scholz die Aula verließ, um im kleinen Kreis mit ukrainischen Flüchtlingskindern der Willkommensklasse der Heinz-Galinski-Schule zu sprechen.
Aufregung »Er war sehr nett«, sagte ein Schüler nach dem Besuch des Kanzlers. »Er erinnert mich an meinen Onkel, den ich mag«, sagte ein anderer Junge. »Ich war vor dem Singen sehr aufgeregt. Aber ich habe ihn mir viel größer vorgestellt, deswegen war die Aufregung schnell weg«, verriet eine Zweitklässlerin etwas kryptisch.
Scholz jedenfalls schien den bunten Besuch sehr zu genießen. Ein kleines Chanukka-Wunder: ungewohnt locker, leicht, beschwingt und ebenso herzlich wie zugewandt – diesen Eindruck hinterließ der Bundeskanzler beim Lichterzünden in der Galinski-Grundschule.