Kindergeschichte

Ein Jahr, süß wie ein Baby

Elf Jahre lang war David der Kleine. Seit er sich erinnern kann, war er bei Feiern in der Familie stets der Jüngste. Seine Großmutter, die noch in Russland lebt, nennt ihn Maltschik. Ich glaube, das heißt auf Russisch »kleiner Junge«. Es ist aber nicht so, dass David darunter leidet, dass er bei Familientreffen immer der Kleinste ist. In der Schule ist das zum Glück anders. Außer Tobias, Matthias, Ali, Stefan, Georg, Klaus, Anne, Tim und Till ist niemand größer als er.

Es war im Januar, als Vati David und seine Schwester zusammenrief: »Wir haben eine Überraschung für euch.« David rannte die Treppe hinunter und dachte an die Wii-Spiele, die schon fast alle in seiner Klasse haben. »David, du wirst nicht mehr lange der Jüngste in unserer Familie sein«, sagte ihm der Vater. »Wieso? Kauft ihr uns einen Hund? Darf ich ihn auswählen? Bitte, Vati!« Davids große Schwester verdrehte die Augen und stöhnte auf. Doch die Mutter lächelte versonnen. »Ihr bekommt im September ein Geschwisterchen!« David starrte auf Muttis Bauch. Da war nichts. »Mein Bauch wird immer größer, weißt du.« David wusste das natürlich. Und als ihm Vati erzählen wollte, wie kleine Babys entstehen, war David es, der die Augen verdrehte. Er weiß das doch alles.

Zwei Wochen vor Rosch Haschana sah es zu Hause ziemlich unaufgeräumt aus. Die Eltern hatten beschlossen, dass der Babyschrank in Davids Zimmer kommen soll. Die große Playmobil-Sammlung musste auf den Speicher.

»Du spielst ja eh nicht mehr damit.« Überall war Babykleidung verstreut. Im Flur, im Arbeitszimmer, über dem Fernseher und unter Davids Bett lagen Kleidchen mit Lillifee, Hello Kitty und anderen Prinzessinnen wild durcheinander. David wusste Bescheid: Es scheint also ein Mädchen zu werden.

Blablabla In der Religionsstunde war Davids künftige Schwester wichtiger als die Geschichte mit der Waage. An Rosch Haschana wägt Gott ja ab, ob die Menschen mehr gute Taten vollbracht oder mehr Verbrechen verübt ha- ben. Der alte Religionslehrer gluckste: »Na, dein Schwesterchen wird ja auch bald gewogen! Ich wog bei der Geburt um die 3.900 Gramm und war einer der fettesten Berliner. Das war im Jahr 1930. Damals waren 3.900 Gramm eine Seltenheit. Meine Mutter …« Blablabla. David war das alles ziemlich peinlich. Gerade guckte ihn Dewora an. In der Religionsstunde sitzen sie immer nebeneinander und versuchen, einander nicht anzuschauen.

David redet lieber über Fußball. Er findet Babys ziemlich peinlich. Aber sogar in seinem Klub ist die frohe Botschaft durchgekommen: »Hey, wie alt ist eigentlich deine Mutter?«, wollte ein Verteidiger wissen. »Keine Ahnung, vielleicht 40.« – »Boah!« Und ein Ersatzspieler fragte David, ob er dann überhaupt noch spielen wird, wenn er immer wickeln muss. »Ich werde doch keine Babys wickeln!«, schrie ihn David an.

Windelweiss Nein, also das geht alles ein bisschen zu schnell für David. Er sitzt jetzt in der Synagoge und blättert im Siddur. Gleich beginnt Rosch Haschana. Der Vorbeter hat sich ganz in Weiß gehüllt. David muss dabei an Windeln denken. Der Rabbiner läuft durch die Gänge. Bei Davids Vater hält er kurz an. Die beiden unterhalten sich leise. Es fallen die Wörter »Klinik« und »Krankenwagen«. Vater guckt nach hinten.

Der Vorbeter beginnt zu singen. Irgendetwas liegt in der Luft. Normalerweise beginnt Vater erst zu beten, wenn die Kuchen aufgetragen werden oder wenn Großvater neben ihm sitzt. Doch heute Abend betet er sehr konzentriert mit. David wird es ein bisschen mulmig. »Was ist passiert, Vati?« Doch der fährt ihm zärtlich über den Mund. Ist das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes Zeichen?

Plötzlich macht es »dongelidingelidongdongdingelidong«. Vater reißt sein Handy aus der Brusttasche und flüstert: »Ich komme!« David rennt ihm nach. Vor der Synagoge steht das Auto. Mit 140 Stundenkilometern brettert Vati zur Klinik, bremst scharf und hechtet durch die Eingangstür. David rennt ihm immer hinterher. »Junger Mann!«, eine dicke Krankenschwester verstellt ihm den Weg, »für dich geht’s dort entlang.«

David setzt sich ins Wartezimmer und fängt an zu weinen. Haschem, mach bitte, dass alles gut wird! Lass das neue Jahr bitte super anfangen. Ich verspreche auch, dass ich vielleicht irgendwann einmal helfen werde beim Wickeln!

»Komm!«, ruft ihn die Schwester, »jetzt darfst du hinein!« David läuft durch weiß gekachelte Gänge und gelangt am Ende des Korridors zum Zimmer der Mutter. Sie liegt im Bett und lächelt erlöst: »Schana towa, David! Und Schana towa deiner kleinen Schwester!«

Parteien

Warum Sachsens Ministerpräsident Kretschmer AfD-Chef Urban traf

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat stets eine klare Position gegen die AfD bezogen. Daran soll auch ein Treffen mit Jörg Urban nichts ändern

 05.11.2024

Flüchtlingshilfswerk

Israel verbietet UNRWA Arbeit auf seinem Staatsgebiet

Israel schränkt die Arbeit des UN-Hilfswerks für die Palästinenser nach Terrorvorwürfen massiv ein

 28.10.2024

Berlin

Schimon Stein: Jüdisches Leben in Deutschland bleibt bedroht

»Der Schutz des jüdischen Lebens ist zum deutschen Mantra geworden«, so der Ex-Botschafter

 23.10.2024

Schloss Meseberg

Scholz dankt Katar für Vermittlung im Nahost-Krieg

Das Emirat ist Vermittler, gilt aber auch als Terror-Finanzier

 23.10.2024

Nahost

Baerbock macht sich in Beirut Bild der Lage

Die Außenministerin warnt vor »völliger Destabilisierung« des Libanon

 23.10.2024

Nahost-Krieg

London schränkt Waffenexporte nach Israel ein

Staatssekretärin Anneliese Dodds spricht von einer Begehung mutmaßlicher Kriegsverbrechen

 23.10.2024

Video

Was Sinwar kurz vor dem Überfall auf Israel machte

Die israelischen Streitkräfte haben Videomaterial veröffentlicht, das Yahya Sinwar am Vorabend des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 zeigt

 20.10.2024

Gaza

100.000 Dollar für jede lebende Geisel

Der Unternehmer und ehemalige Sodastream-CEO Daniel Birnbaum hat den »guten Menschen in Gaza« ein Angebot gemacht

 20.10.2024 Aktualisiert

Feiertage

Chatima towa, oder was?

Was von Rosch Haschana über Jom Kippur bis Sukkot die korrekte Grußformel ist

von Rabbiner Yaacov Zinvirt  24.10.2024 Aktualisiert