Ein wenig erinnert die Atmosphäre im weitläufigen Loewe-Saal an ein Musikfestival: Die Menschen tragen blaue Plastik-Armbändchen und Sticker, auf denen »Uniting Europe« zu lesen ist, an einem Tisch kann man neben Büchern auch T-Shirts kaufen. Allmählich nimmt die Menge in den langen Stuhlreihen vor der Bühne Platz, das Licht wird gedimmt. Dann brandet Applaus auf, alle springen auf und johlen – doch der kleine ältere Mann, der in das Scheinwer-ferlicht tritt, ist kein Rockstar, sondern Rabbiner. Es ist Michael Laitman, Gründer und Präsident des »Bnei Baruch Kabbalah Zentrums« in Israel.
Programm Seine Vorträge bilden den Kern des dreitägigen Kabbala-Kongresses am vergangenen Wochenende in Berlin-Tiergarten. Obwohl es der erste Kongress in der Hauptstadt ist, scheint alles perfekt organisiert: An mehreren Registrierungsschaltern werden die Besucher in Empfang genommen, drei Kameras übertragen das Treffen live ins Internet. An einem Tisch werden kleine Radioempfänger ausgegeben, Plakate an den Wänden verkünden die Frequenzen, auf denen die Simultanübersetzungen des Vortrags laufen. Insgesamt sieben Sprachen stehen den 580 Teilnehmern aus 38 Ländern zur Verfügung. »Mit dieser Resonanz hatten wir gar nicht gerechnet«, erklärt Alexander Stetter, Vorsitzender des deutschen Kabbala-Vereins ARI-Bildungseinrichtung, der den Kongress mitorganisiert hat.
Auf der Bühne hat Rabbiner Laitman mittlerweile mit seinem Unterricht begonnen. Das Thema: Die Entwicklung Europas bis heute und die besondere Rolle des Kontinents aus Sicht der Kabbala. In seinem Vortrag erklärt Laitman seinem aufmerksam lauschenden Publikum auch gleich noch einmal die Grundzüge der Kabbala. Er spricht davon, dass die Menschen erst ihren Egoismus bis zum Äußersten entwickeln müssten, bevor sie den Zustand der Verbindung und Vereinigung erreichen könnten. Die jahrtausendealte Weisheit der Kabbala, die aus Babylon stamme, helfe ih-
nen dabei, dieses Gleichgewicht und diese Harmonie zu erreichen. Laitman verdeutlicht seine Worte mit kleinen Skizzen, die auf große Leinwände projiziert werden. Immer komplexer werden seine Zeichnungen, während er ausführt, dass die derzeitige Krise die Menschheit zur Vereinigung zwinge. Europa komme dabei eine entscheidende Rolle zu.
Konzept Nach einer Stunde Vortrag, den der Rabbiner frei gehalten hat, ist noch Zeit für Fragen. Ein junger Mann tritt an eines der Mikrofone und will wissen, wie man nun zur Einsicht gelangen kann. »Lesen, lesen, lesen und das Material wie ein Fleischwolf durchkauen«, lautet die Antwort Laitmans. Er betont, wie wichtig das intensive Studium sei. Dabei lautet ein Vorurteil gegen die so interpretierte kabbalistische Lehre, ihren Schülern würde versprochen, die komplizierten Texte gar nicht lesen zu müssen, es genüge die Buchstaben zu »scannen«. Diese Auffassung der Kabbala orientiere sich allerdings an der Schule von Philip Berg und dessen »Kabbalah Centre« in Tel Aviv. Bergs Lehre ist durch berühmte Anhänger wie Pop-Sängerin Madonna weltweit bekannt geworden – und in die Kritik geraten. Es gehe nur noch um Profit, mit der ursprünglichen Geheimlehre habe diese Interpretation wenig zu tun. Berichte über die charakte-
ristischen roten Armbändchen und obskures heiliges Wasser bestimmen so das Bild der Kabbala. Doch von beidem sieht man bei dem Kongress in Berlin nichts. »Die ganze Welt denkt, dass Madonna, heiliges Wasser, rote Bändchen und diese ganze Zauberei Kabbala ist«, schimpft Laitman. In einem Punkt stimmt er allerdings mit Philip Berg überein, dass sich nämlich die Lehre nicht nur an Juden richte: »Die Weisheit der Kabbala hat nichts mit Mystik oder dem Judentum zu tun, sondern ist eine Wissenschaft.« Trotz dieser Einstellung trägt Laitman eine Kippa: »Ich bin verpflichtet, mich als religiöser Jude zur verhalten, sonst würde niemand denken, dass ich ein authentischer Kabbalist bin«, sagt er dazu.
Alexander Stetter, 41-jähriger Apotheker, ist nach eigenen Angaben christlich erzogen und seit mehreren Jahren ein »Student« von Rabbiner Laitman. Er ist davon überzeugt, dass man die »Weisheit« auch vertreten kann, wenn man – wie er und die Mehrheit der Kongressteilnehmer – nicht jüdisch ist. Und so sei beim Kongress am Samstag zum Beispiel auch der Schabbat nicht gefeiert worden, das wäre eher »befremdend«. Dass viele Beobachter genau das befremdend finden – Kabbala ohne Judentum – kommentiert Stetter so: »Die Kabbala zwingt nichts auf.«
Verbindung Zurück im Saal, hat mittlerweile der Programmpunkt »Yeshivat Haverim«, die Freundesversammlung, begonnen. In zwei Stuhlreihen sitzen Männer auf der Bühne, die sich um die Schultern gefasst haben. Nacheinander erzählen sie von ihren Erfahrungen mit der Kabbala, donnernder Applaus beendet jeden Bericht. Zwischendurch wird immer wieder Musik gespielt, begeistert tanzt das Publikum zu den lauten Klängen. Zur Melodie von »Sweet Home Alabama« singt die Menge »My home is Kabbala«. Ein Mann mit einem Laptop läuft durch die Reihen und filmt das Geschehen – der Kongress wird live ins Internet übertragen. Laitmans Anhänger nutzen die neuen Medien intensiv, viele studieren in Online-Kursen. »Kongresse wie dieser sind da eine Gelegenheit, sich einmal persönlich kennenzulernen«, sagt einer der Besucher, der seinen Namen nicht nennen möchte. Auf die Frage nach dem Grund dafür erklärt er: »Als Kabbalist werde ich doch gleich als verdrehter Sektenanhänger gesehen. Dass das ein ernsthaftes Studium ist, sieht kaum jemand.«
Nach der Freundesversammlung wird gemeinsam gegessen, ein »Kulturabend« beendet den ersten Kongresstag. Die Mischung aus Vorträgen, Unterricht und buntem Abendprogramm bestimmt auch den Rest des Treffens. Zum Abschluss zeigt sich Alexander Stetter zufrieden: »Ich war schon auf vielen Kongressen und jedes Mal ist es eine Steigerung, aber dieser war be-
sonders stark.« Er hat vor allem das Ge-
meinschaftsgefühl unter den Teilnehmern genossen: »Das ist genau das Gefühl, das auch die Kabbala beschreibt: dieses Verbindende.« Die Euphorie ist ihm immer noch anzuhören. Gleichzeitig kündigt er an, dass in Berlin ein europäisches Kabbala-Zentrum aufgebaut werden soll.