von Tobias Kühn
Sechzehn Millionen sind eine große Zahl. So viele Seiten etwa umfassen die Aktenberge aus der knapp zwanzigjährigen Amtszeit von Pius XII., einem der umstrittensten Päpste der Geschichte. Sie liegen im Vatikanischen Geheimarchiv unter Verschluss. Wenn alle katalogisiert sind, sollen sie der Forschung zugänglich gemacht werden, nach jüngsten Angaben aus Rom könnte dies in sechs bis sieben Jahren der Fall sein.
Trotz der dürftigen Aktenlage eröffnet der Vatikan am heutigen Donnerstag im Berliner Schloss Charlottenburg eine Ausstellung über jenen Papst der Jahre 1939 bis 1958, der im bürgerlichen Leben Eugenio Pacelli hieß (vgl. Interview S.1). Anlass ist sein 50. Todestag im vergangenen Oktober. Wie das Päpstliche Komitee für Geschichtswissenschaften der Presse mitteilt, will man mit der Schau »das unverzerrte Lebensbild Eugenio Pacellis darstellen«.
Während ihm seine Kritiker vorwerfen, zum Holocaust geschwiegen zu haben, betonen andere Historiker, Pius XII. habe Hunderttausenden Juden in der NS-Zeit das Leben gerettet. 1963 löste Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter die Diskussion um die Mitschuld des Papstes am Holocaust aus. Derzeit befindet sich der Prozess zu Pius’ Seligsprechung in der Endphase. Doch nachdem Rabbiner und jüdische Organisationen im Herbst dagegen protestiert hatten, versicherte Papst Benedikt XVI., man werde nichts überstürzen.
Die Berliner Ausstellung, die zuvor in Rom zu sehen war und im Frühjahr nach München weiterwandern wird, trägt den Titel »Opus Iustitiae Pax«, das Werk der Gerechtigkeit ist der Frieden, ein Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja. Pacelli wählte ihn als Wahlspruch für sein Wappen als Bischof, Kardinal und Papst. War er ein Mann des Friedens, ein Gerechter? Oder soll der Besucher gerecht sein und seinen Frieden mit diesem Papst machen?
Eugenio Pacelli wurde am 2. März 1876 in Rom geboren. Der Ausstellungsbesucher erfährt die genaue Adresse: »im 3. Stock von Via Monte Giordano 34 (heute Via degli Orsini) zwischen Piazza Navona und Engelsbrücke«. Darunter ein kleines Schwarzweißbild des Schlafzimmers, in dem der spätere Papst das Licht der Welt erblickte. Die Familie gehört dem römischen Adel an und ist dem Heiligen Stuhl eng verbunden. Eugenio besucht eine öffentliche Schule, später das Königliche Gymnasium, wird Klassenprimus und erhält wegen seiner guten Zensuren das Reifezeugnis, ohne die Abiturprüfungen ablegen zu müssen. Er geht ans Priesterseminar und hört Vorlesungen an der Universität. 1899 Priesterweihe, zwei Jahre später beginnt seine steile Karriere im diplomatischen Dienst: 1903 Minutant, 1904 Hausprälat, 1911 Untersekretär, 1914 Sekretär, 1917 Nuntius in München, 1920 Nuntius in Berlin, 1929 Kardinalstaatssekretär, Chefdiplomat des Vatikans. Zehn Jahre später, an seinem 63. Geburtstag, wird Eugenio Pacelli Papst.
In sechs Räumen schildern Texte und Fotos auf mehr als 70 Stelltafeln das Leben und Werk dieses Mannes. Darüber hinaus werden wertvolle Pontifikalgewänder und die päpstliche Krone, die Tiara, gezeigt.
Der dramaturgische Höhepunkt jedoch ist der siebte Raum, in dem die Ausstellungsmacher in großen Lettern einen süffisanten Satz an die Wand geschrieben haben: »Hier hören Sie das Schweigen des Papstes.« Darunter steht vor einer Pius-Büste auf einem Sockel das Original-Mikrofon, durch das der Papst seine Radiobotschaften verbreitet hat. Es soll Beweisstück sein für seinen Protest gegen den Holocaust. Hinter dem Mikrofon, an der Wand, liest der Ausstellungsbesucher in einem großen weißen Kreis, was Pius zu Weihnachten 1942 über Radio Vatikan zum Holocaust sagte: »Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder fortschreitender Verelendung preisgegeben sind.«
Fest steht wohl, und dem schließen sich die meisten Historiker an: Geschwiegen hat der Papst nicht. Ob er nachts manchmal wach lag, weil er mit sich rang, gegen den Massenmord an den Juden schärfer und häufiger protestieren zu müssen, bleibt im Verborgenen. Vielleicht geben eines Tages die Unterlagen im Vatikanischen Geheimarchiv darüber Auskunft.
Die Ausstellungsmacher haben den Papst auf ihre Art zu lang anhaltendem Sprechen gebracht: In einer Endlosschleife lassen sie eine Tonbandaufzeichnung seiner Weihnachtsansprache von 1942 laufen. Zieht man in Betracht, dass die Ausstellung in Charlottenburg bis zum 7. März mittwochs bis montags von 10 bis 17 Uhr geöffnet ist, verurteilt der Papst geschlagene 266 Stunden lang den Holocaust. Und das in Berlin, der ehemaligen Reichshauptstadt. Da werden ein paar Minuten zur Ewigkeit. So macht man Helden.
Weitere Informationen: www.papstpiusxii.de