Der 9. November 1989 wird im Allgemeinen nicht mit andächtigen Menschen, die Kerzen in ihren Händen halten, in Verbindung gebracht, sondern vor allem mit Feiernden, die Sektkorken knallen lassen und auf der Berliner Mauer tanzen. Und mit einem etwas verwirrten Günther Schabowski, der diese Feierstimmung verursacht hatte, indem er die Öffnung der Grenze zu Westdeutschland verkündete.
Während aber Schabowski in Berlin den Fall der Mauer einleitete, schritten in Leipzig mehrere Zehntausend Menschen von der Nikolaikirche zum Gedenkstein für die 51 Jahre zuvor zerstörte Synagoge, um der Opfer des deutschen Massenmords an den europäischen Juden zu gedenken und gegen Rechtsradikalismus in der DDR zu demonstrieren. Den Schweigemarsch hatten Mitglieder des Neuen Forums Ende Oktober angemeldet. Die Oppositionsgruppe erhielt am 8. November die offizielle Zulassung, und so wurde der Schweigemarsch zur ersten genehmigten nichtstaatlichen Demonstration in Leipzig. Stattgefunden hätte er aber sowieso, nahm es doch die Volkspolizei im Herbst ‹89 mit Genehmigungen nicht mehr so genau.
Das war jedoch nicht immer so gewesen: Sechs Jahre zuvor, am 9. November 1983, waren einige Dutzend Jugendliche, die auch schweigend und mit Kerzen zum Gedenkstein für die zerstörte Synagoge gingen, von der Volkspolizei auseinandergetrieben worden. Sie hatten in der Nikolaikirche an einem Friedensgebet für die Opfer der Pogromnacht teilgenommen und wollten das Gedenken auch aus der Kirche in die Öffentlichkeit tragen. Die Volkspolizisten hingegen, die offenbar nichts von der besonderen Bedeutung des Tages wussten, unter- banden die unerwünschte Gedenkinitiative rasch. Kurz vor dem Beginn des Internationalen Dokfilm-Festivals und während der Abschlussveranstaltung des Lutherjahres war die Stadt voller Ausländer, und da hatte Ruhe und Ordnung zu herrschen. Fünf Jahre später, 1988, waren es immerhin schon 200 Menschen, die sich an dem Schweigemarsch nach dem Friedensgebet beteiligten. Die Polizei – diesmal besser informiert – ließ es geschehen, den Ärger bekamen die Verantwortlichen hinterher.
Die Leipziger Ereignisse der 80er-Jahre sind keine Einzelfälle, wenn es um die Auseinandersetzung ostdeutscher Oppositioneller mit der NS-Vergangenheit geht. Ihnen war das Thema wichtig, weil der Mord an den Juden in der offiziellen Geschichtskultur der DDR eine sehr marginale Stellung einnahm – wenn man vom »Gedenkwettstreit« mit der BRD zum 50. Jahrestag der Pogromnacht 1988 einmal absah. Im Zentrum des offiziellen Gedenkens standen der kommunistische Widerstand und die heldenhafte Rote Armee. Die fehlende Aufarbeitung der NS-Judenverfolgung und das offiziell verweigerte Bekenntnis zur Schuld der Deutschen, also auch derer in der DDR, versetzte der antifaschistischen Fassade der DDR ernsthafte Risse. Zusammen mit der Berichterstattung über den »Aggressor« Israel, die nicht selten antisemitische Stereotype aufgriff, war die beanspruchte moralische Autorität in Bezug auf die deutsche Geschichte gründlich diskreditiert.
Für die Opposition war dies nicht nur eine Vorlage, die Verlogenheit der DDR allgemein zu kritisieren, sondern auch ein Ansporn, selbst einen ehrlicheren Umgang mit der Vergangenheit zu zeigen: Auch anderswo als in Leipzig gab es eine Vielzahl von Gedenkveranstaltungen zum 9. November: In Berlin etwa wurden 1984 und 1985 Mahnwachen vor der damals noch unrenovierten Neuen Synagoge abgehalten, in vielen Kirchen organisierten oppositionelle Gruppen – besonders 1988 – Gebete und Ausstellungen, es wurden Reden gehalten, Gedenksteine eingeweiht. Aber auch ganz praktische Aktionen fanden statt, etwa die Instandsetzung jüdischer Friedhöfe, die gelegentlich gegen passive DDR-Behörden durchgesetzt werden musste.
untergrund-gedenken Nicht zuletzt erschien eine ganze Reihe von Beiträgen zur Schoa und dem Umgang mit ihr im Samizdat, also im Selbstverlag, der sich staatlicher Kontrolle entzog. So erschien eine Sammlung von Gedichten Paul Celans, und die Zeitschrift KONTEXT gab zum 9. November 1988 das Sonderheft »Jiskor (Gedenke)« heraus, eine Sammlung mit Texten zur Schoa, die den Ostdeutschen sonst nur schwer oder gar nicht zugänglich waren. Die »Umweltblätter«, die wohl wichtigste oppositionelle Zeitschrift, kritisierten das staatliche Gedenken zum 50. Jahrestag der Pogromnacht. Das DDR-Regime, das die eigene Bevölkerung unterdrücke, könne des Judenmords nicht glaubwürdig gedenken, nutze es doch ähnliche Mechanismen wie die Nazis, auch wenn eine Gleichsetzung »angesichts des damaligen Leidens und Sterbens vermessen« wäre. Der Theologe Wolfgang Ullmann erklärte die Frage nach dem Umgang mit der Schoa zur »Testfrage für Gesellschaft, Staat und Kirche«.
Dass sich am 9. November 1989 mehrere Zehntausend Menschen in der Leipziger Innenstadt versammelten, zeigt, dass es den Oppositionellen in der DDR bei der Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit um weit mehr ging als um die moralische Delegitimierung des Honecker-Regimes: Sie sahen einen ernsten und ehrli- chen Umgang mit der deutschen Vergangenheit als notwendige Voraussetzung für den Aufbruch in eine andere Zukunft.