Als der achtjährige Alvy Singer – Alter Ego Woody Allens in dessen Meisterwerk Annie Hall (Der Stadtneurotiker) – liest, dass sich das Universum ausdehnt, verfällt er in schwere Depressionen. Angesichts der Unendlichkeit des Kosmos und der Begrenztheit des Menschen scheint ihm alles sinnlos. Da er unter diesen Umständen auch keine Schularbeiten mehr machen will, schleppt ihn seine Mutter zum Psychologen. Der versucht, den kleinen Alvy zu beruhigen: »Was geht denn dich das Universum an? Du bist hier in Brooklyn – und Brooklyn dehnt sich nicht aus.« Alvy hat für solche metaphysische Wurschtigkeit nur tiefste Verachtung übrig.
Zum Glück gibt es noch einen anderen Weg, mit der Erhabenheit des Kosmos umzugehen, außer Depression und Gleichgültigkeit. Diesen hat der amerikanische Astrophysiker Saul Perlmutter beschritten: den Weg wissenschaftlicher Erkenntnis. Und was er herausgefunden hat, könnte unser Wissen über das Universum revolutionieren. Dieses dehnt sich seit dem Urknall tatsächlich beständig aus. Seit der Entdeckung des Urknalls durch Edwin Hubble in den 1920er-Jahren streiten sich die Astronomen nur noch über die Frage, ob es das mit gleichbleibender Geschwindigkeit tut, oder ob sich die Ausdehnung allmählich verlangsamt. Albert Einstein war noch von einem statischen Universum ausgegangen. Die bis vor Kurzem verbreitete Lehrmeinung ging davon aus, dass sich die Expansion verlangsame.
Eine dritte Möglichkeit – dass sich die Expansion des Universums sogar noch beschleunigen könnte – zog niemand ernsthaft in Betracht. Auch der 1959 geborene Perlmutter nicht. Doch war es genau das, was er herausfand, als er in den 80er- und 90er-Jahren gemeinsam mit seinen Mitarbeitern vom »Supernova Cosmology Projekt« an der Universität von Berkeley (Kalifornien) explodierende Sterne – sogenannte Supernovae – beobachtete. Bei der Explosion nimmt die Leuchtkraft des Sterns um ein Milliardenfaches zu. Da alle Supernovae genau gleich hell sind, eignet sich ihre Beobachtung zur Bestimmung von Entfernungen im Weltall. Je schwächer ihr Leuchten von der Beobachterposition auf der Erde scheint, umso weiter ist sie entfernt.
Das Team um Perlmutter entdeckte nun, dass die beobachteten Supernovae schwächer leuchteten, als angenommen – also weiter entfernt waren, als sie es früheren Messungen zufolge hätten sein müssen. Die Forscher prüften und verwarfen diverse Erklärungsansätze für dieses Phänomen, bis nur noch einer übrigblieb: die Supernovae waren tatsächlich weiter entfernt als gedacht. Was nur den Schluss zuließ, dass sich das Universum mit immer größerer Geschwindigkeit ausdehnt. Die gesamte Kosmologie des 20. Jahrhunderts war über den Haufen geworfen.
Zusätzliches Gewicht bekamen Perlmutters Forschungsergebnisse dadurch, dass zur gleichen Zeit ein zweites Team von Wissenschaftlern unabhängig von Perlmutter zu der gleichen Erkenntnis gelangte: das »High-z Supernova Search Team« um Brian Schmidt in Australien. Die renommierte Wissenschaftszeitschrift Science nannte die Entdeckung der beiden Teams den »Durchbruch des Jahres 1998«. Vergangene Woche gab die private Gruber-Stiftung in New York bekannt, dass Perlmutter und Schmidt den mit 500.000 Dollar dotierten Gruber-Preis für Kosmologie erhalten, der in diesem Jahr zum siebten Mal vergeben wird. Das Preisgeld wollen sie sich mit ihren insgesamt 51 Mitarbeitern teilen. Am 7. September dieses Jahres wird der Preis im Rahmen einer feierlichen Zeremonie an der Universität Cambridge verliehen.
Bislang ist freilich unbekannt, weshalb die Ausdehnung des Universums an Geschwindigkeit zunimmt. Die Gravitationskraft müsste die Ausdehnung eigentlich verlangsamen, genau so, wie es Astronomen bis vor Kurzem angenommen hatten. Irgendeine Kraft muss der Gravitation also entgegenwirken. Nur welche das ist, ist noch völlig unbekannt. Perlmutter bezeichnet diese Kraft einstweilen als Dunkle Energie – analog zur Dunklen Materie, die Astronomen annehmen, weil nur durch sie die Gravitationsverhältnisse im Kosmos erklärt werden können. Sicht- und beobachtbar ist sie bisher nicht, daher ist sie ja auch »dunkel«. »Das Universum besteht zum größten Teil aus Dunkler Materie und Dunkler Energie«, sagt Perlmutter, »und wir wissen weder, was das eine, noch was das andere ist.«
Perlmutter will es dabei nicht bewenden lassen. Derzeit arbeitet er an der Entwicklung eines Riesen-Teleskops, von dem er sich Aufschlüsse über die Natur der Dunklen Energie erhofft. Dieses Teleskop soll auf einem Satelliten angebracht werden, um die optische Verzerrung durch die Erdatmosphäre zu umgehen. Freilich gibt es eine weitere Möglichkeit, die die Wissenschaft in Beunruhigung versetzt: dass es gar keine Dunkle Energie gibt, die der Gravitation entgegenwirkt, sondern dass sich die Gravitationsgesetze selbst anders verhalten, als bisher angenommen. Das hieße aber, dass Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie der Revision bedürfte.
Der reife Woody Allen hat übrigens zu einer entspannteren Haltung gegenüber dem expandierenden Universum gefunden. Immerhin liefere es eine Ausrede, zu spät zur Arbeit zu erscheinen, schrieb Allen. Denn auch der Weg dorthin dehnt sich schließlich von Tag zu Tag ein bisschen weiter aus.