von Ingo Way
Ein Genie wird oft verkannt. Das musste der Ingenieur und Spieleentwickler Ralph Baer Anfang der 70er-Jahre am eigenen Leib erfahren. Der smarte Chef der Firma Atari, Nolan Bushnell, brachte 1972 das erste Videospiel der Welt auf den Markt: Pong. Wirklich das erste? Nein, Ralph Baer hatte das Spiel bereits 1966 erfunden, zusammen mit der allerersten Spielkonsole, der heute legendären »Brown Box«. Die Elektronikfirma Magnavox brachte sie, unter dem Namen Magnavox Odyssey, ebenfalls 1972 auf den Markt. Da war Baer 50 Jahre alt. Den Erfolg heimsten Jüngere ein – die 20-jährigen Hippies von Atari.
Dass er zum Elektroniktüftler werden würde, war Ralph Baer nicht in die Wiege gelegt. 1922 wird er im rheinland-pfälzischen Rodalben geboren, in der Nähe von Pirmasens. Sein Vater arbeitet in einer Schuhfabrik, in der die berühmten »Pirmasenser Schlappen« hergestellt werden. Später zieht die Familie nach Köln, in die Nähe des 4711-Hauses, nur um wenige Jahre später emigrieren zu müssen. »Drei Monate vor der ›Kristallnacht‹, kurz bevor es richtig ungemütlich wurde«, erinnert sich Baer heute. Schon zwei Jahre zuvor war Baer von der Schule geflogen, weil er Jude war. Jetzt, mit 16, ohne Schulabschluss, schlägt er sich in New York als Fabrikarbeiter durch – zehn Stunden am Tag, für zwölf Dollar die Woche. Mit der Sprache hat er keine Probleme, »Englisch hatte ich schon in der Schule«. Doch er will höher hinaus. In einer Zeitschrift findet er eine Anzeige: »Machen Sie das große Geld als Radiomechaniker.« Baer belegt einen Fernkurs und repariert bald Radios und Fernseher in ganz Manhattan.
Dann kommt der Weltkrieg. Baer kehrt als GI nach Europa zurück, im Hauptquartier der US-Army in London arbeitet er als Techniker. Zurück in Amerika holt er sein Diplom nach, versucht, sich selbstständig zu machen, und landet schließlich bei der Rüstungsfirma Sanders. Dort wird er zum leitenden Ingenieur, hat 500 Leute unter sich, erfindet Abhörtechnik und Radarsysteme und wirkt an der Raketentechnik mit, die die Amerikaner wenige Jahre später auf den Mond bringen soll.
Doch das alles befriedigt ihn nicht. Schon als Kind hat er gerne Brettspiele gespielt – Sport war nie so sein Ding. Eines Tages fragt er sich, ob man mit einem Fernseher nicht noch etwas anderes anstellen könnte, als langweilige Serien und Quizshows zu gucken. Etwas – heute würde man sagen: – Interaktives.
Und während die Kollegen und Mitarbeiter an regierungswichtigen Projekten arbeiten, frickelt Baer während der Arbeitszeit an seinem virtuellen Ping-Pong-Spiel herum. Typisch »jüdische Chuzpe«, lacht er heute. Das Ergebnis wirkt aus heutiger Sicht unspektakulär: Der »Ping-Pong-Ball« ist ein weißer Punkt aus Pixeln auf dem Bildschirm, der mittels Joystick über eine weiße Linie bewegt wird. Und doch ist die Idee so erfolgreich, dass ein anderer damit reich wird.
Doch Jahre später kommt endlich die Genugtuung. Baer, der jeden Zettel akribisch archiviert, kann nachweisen, dass Atari-Chef Bushnell an einer Vorführung von Baers Brown Box teilgenommen hat – und zwar, bevor das Spiel Pong von Atari auf den Markt kam.
Beklagen will sich Baer ohnehin nicht. Er hat seit 1983 eine eigene Firma, MicroPROS Technology Solutions. In den Jahren und Jahrzehnten nach der Brown Box erfand er noch so manche technische Spielerei. Darunter das erste Ballerspiel der Welt, die Shooting Gallery. »Schießen tut doch jeder gern, vom Kind bis zum 120-Jährigen«, meint Baer. Deswegen sei es auch ein Spiel für die ganze Familie. Er meint natürlich nur das virtuelle Schießen auf dem Bildschirm. Dennoch verlieh ihm die US-Armee einst die Marksmanship Medal, einen Orden für Scharfschützen. »Da waren diese ganzen zwei Meter großen Typen aus Tennessee, Georgia und Alabama. Daneben ich, der kleine, schmächtige Jude. Aber ich traf genauso oft ins Ziel wie sie, so bekam ich den Orden.«
150 Patente hat Baer bis heute angemeldet, darunter auch eine sprechende Fußmatte. Seinen größten Erfolg hatte er in den 80er-Jahren mit »Senso« – jenem UFO-ähnlichen Spielzeug mit vier farbigen Feldern, die nacheinander aufleuchten und Signaltöne von sich geben, die man sich merken muss. Und auch die Anerkennung blieb nicht aus: 2006 erhielt Baer aus den Händen von US-Präsident George W. Bush die National Medal of Technology für seine Verdienste auf dem Gebiet der Videospiele.
Sein Geburtsland wollte Ralph Baer jahrzehntelang lieber nicht noch einmal betreten. Fast seine gesamte Familie war in Konzentrationslagern ermordet worden – und er wollte einfach keinen Tätern begegnen. Vor zwei Jahren entschloss er sich dann aber doch, das Computerspielemuseum in Berlin zu besuchen. Da war er zum ersten Mal seit 1938 wieder in Deutschland. »Deutschland ist ein schönes Land mit netten jungen Leuten«, findet er.
Und gerade erst war der 86-Jährige, der die deutsche Sprache nie verlernt hat, wieder in Pirmasens. Im dortigen Technikmuseum Dynamikum wird seine Brown Box ausgestellt. Die Urmutter von Nintendo, XBox und Playstation ist museumsreif geworden. Mit den heutigen Spielekonsolen kann Ralph Baer nichts anfangen. Einmal hat er mit seinem Enkel auf der Xbox Autorennen gespielt. »Aber ich bin ständig gegen die Wand gefahren. Nach 15 Minuten habe ich dann entnervt aufgegeben.«
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