Lasst es knallen!
Silvester ist wie ein Geburtstag. Den sollte jeder feiern
von Lena Gorelik
Alleine die Vorstellung: Am 31. Dezember um elf Uhr abends ins Bett zu gehen, noch ein paar Seiten lesen, einschlafen – absurd! Und dann? Wenn es ab Mitternacht draußen knallt und alles lacht und hüpft und sich freut und das leuchtende Feuerwerk auch durch die heruntergezogenen Jalousien hindurchschimmert, schiebt man sich ein Kissen über den Kopf, hält sich die Ohren zu? Und warum?
Weil wir Juden sind. Aha. Juden dürfen nicht feiern, dürfen nicht Sekt trinken, dürfen nicht Wunderkerzen anzünden? Wo steht das denn schon wieder?
Ja, Silvester hat einen christlichen Ursprung. Diese Bedeutung ist jedoch schon lange verloren gegangen, und kaum einer der feiernden Christen bringt die Feierlichkeiten damit in Verbindung. Aus christlicher Sicht könnte man sagen, das Fest sei verkommen, aber wir sind ja keine Christen. Das Fest hat keinen christlichen Hintergrund mehr. Man feiert schlicht und einfach, dass ein Jahreskalender neu beginnt. Nun könnte man widersprechen, dass es sich dabei nicht um den jüdischen Kalender handelt. Es handelt sich jedoch um den Kalender, nach dem wir Tag für Tag leben, unsere Geschäfte erledigen, unsere Arzttermine festlegen, unseren Urlaub planen.
Auch in Israel wird der gregorianische Kalender für Geschäftliches verwendet, weshalb viele, nicht nur junge und nicht nur aus der ehemaligen Sowjetunion emigrierte Israelis, Silvester feiern. Sie tun es ein wenig hinter verschlossenen Türen, und anstatt »Happy New Year« zu rufen, reden sie darüber, was nächstes Jahr wohl alles schiefgehen wird, am nächsten Morgen verdrängen sie dann trotz offensichtlichem Kater den Gedanken an diese Feier und nehmen sich für das (gregorianische) Jahr fest vor, nie wieder dieses Fest zu begehen.
Wird man als Jude zu Weihnachten eingeladen, dann antwortet man höflich, aber bestimmt: »Tut mir leid, ich feiere kein Weihnachten, ich bin Jude.« Denn Weihnachten ist, wenn es auch von vielen nicht als solches gefeiert wird, das religiöse Fest einer anderen Religion. Wird man zu einer Silvesterfeier eingeladen, was sagt man dann: »Tut mir leid, ich bin Jude«? Das wäre eine unnötige Abgrenzung gegenüber der Gesellschaft, in der wir unser Leben gestalten, die wir hoffentlich auch mitgestalten, und die nun einmal die unsere ist.
Es geht hierbei nicht um Assimilation, es geht schlicht und ergreifend um eine Party. Lasst uns nicht mehr daraus machen, als es ist. Die Party zelebriert den Start eines neuen Kalenderjahres, gewissermaßen einen Geburtstag, nicht mehr und nicht weniger. Und selbst wenn man trotz des offenkundigen Gegenteils darauf besteht zu behaupten, dieser Kalender hätte mit uns Juden nichts zu tun, nun ja, man feiert doch auch die Geburtstage der nichtjüdischen Freunde und nicht nur die eigenen. Auf eine Geburtstagseinladung antwortet man doch nicht: »Tut mir leid, aber ich kann leider nicht zu Deinem Geburtstag kommen, ich bin Jude.«
Keiner hält diejenigen, die es so wünschen, davon ab, am 31. Dezember um elf Uhr abends ins Bett zu gehen. Aber lassen Sie doch bitte diejenigen von uns, die sich als Juden und Deutsche, als Juden und Russen, als Juden und Franzosen, als Juden und Amerikaner fühlen (und was ist schon wieder falsch daran?), ihre andere, nichtjüdische Seite ein wenig ausleben und eine schöne Party haben. Fondue essen, Sektkorken knallen lassen, frierend das Feuerwerk beobachten, über die besoffenen Menschenmengen schimpfen und sich schwören, nächstes Jahr das Haus nicht zu verlassen, ein paar Wunderkerzen anzünden (wir Juden zünden doch so gerne Kerzen an!), noch mehr Sekt trinken, eine völlig überbewertete und vielleicht deshalb schöne Party feiern. Denn mehr ist es nicht! Prosit Neujahr!
Lasst es sein!
Der 31. Dezember ist nicht unser Tag
von Rabbiner Avichai Apel
Am 31. Dezember um Mitternacht werden die Korken knallen. Weltweit feiern Millionen und vielleicht Milliarden Menschen den Beginn des christlichen Jahres. Sollen wir auch feiern?
Jude in der Welt zu sein bedeutet, zweimal nachzudenken, bevor Du einen Schritt machst. Du musst zweimal nachdenken, bevor Du am siebten Tag von Pessach Urlaub von der Arbeit nimmst, um das Jiskor-Gebet nicht zu verpassen. Du musst zweimal nachdenken, bevor Du Lebensmittel im Supermarkt kaufst: Ist das hier mit Schweinefett? Du musst zweimal nachdenken, wenn etwas Negatives geschieht: War das diesmal antisemitisch motiviert, oder handelt es sich um einen bürokratischen Fehler? Du denkst zweimal nach, ob Du Silvester feiern sollst. Oder warum soll man eigentlich zweimal überlegen, wenn es nur darum geht, eine nette Party um Mitternacht zu feiern? Es gibt so oder so keinen G’ttesdienst in der Synagoge und falls ich Champagner kaufe, ist er koscher …. dann lass uns feiern!
Aber was ist eigentlich der Anlass dieser Feier? Zwei-Null-Null-Neun (2009) Jahre sind vergangen. Deshalb feiern wir. Mein kleiner Sohn fragte mich: »Aber Moment! Vor einigen Monaten lernten wir Fünf-Sieben-Sechs-Neun (5769). Also warum gibt es einen Unterschied?« Ich habe fast meine Zunge verschluckt und begonnen, ihm zu erklären, dass vor 2009 Jahren (ungefähr) ein Jude in Bethlehem geboren wurde, dessen Vater unbekannt blieb.
Und vor 5769 Jahren schuf G’tt die Welt. Ohne jemandem nahetreten zu wollen: Wir Juden gehören wirklich nicht dazu! Wir sind von der Welt nicht ganz abgeschnitten, und morgen werden wir auch auf unseren Briefkopf 1.1.09 schreiben. Ist das aber ein Anlass für eine Feier? Der erste Tag des Monats Tischri, das Datum von Rosch Haschana, an dem wir uns jedes Jahr noch ein weiteres Jahr von der Erschaffung der Welt entfernen, ist eindeutig ein bedeutsames Datum für uns. Es ist der Tag der Erschaffung der Welt und des Menschen. Zwei zentrale Ereignisse zeichnen den Beginn des jüdischen Jahres für uns aus: Zuerst direkt am Abend von Rosch Haschana während des Familienessens. Wenn wir Gerichte verzehren, die das kommende Jahr symbolisieren sollen. Derjenige, der ein süßes Jahr möchte, weiß, dass er Apfel in Honig tunken soll. Derjenige, der Kinder haben möchte, soll Fisch essen. Natürlich wird empfohlen, »Gefillte Fisch« zu essen, weil er als Symbol für die Leibesfrucht gilt. Daneben veranstalten wir an Rosch Haschana auch eine reiche musikalische Feier. Wir machen aber kein Feuerwerk, sondern wir blasen den Schofar. Natürlich spielen wir nicht Werke von Bach oder von Mozart.
Der größte Unterschied in der Art, das neue Jahr zu beginnen, besteht zweifellos in der Frage, was man mit einen Glas guten Weines macht. Das Knallen der Korken von Champagnerflaschen soll das Gemüt erheben. Ohne Alkohol würde die Freude viel ruhiger ausfallen und wäre etwas ungefährlicher für diejenigen, die danach nach Hause fahren müssen. Im Gegensatz dazu erheben wir an Rosch Haschana das Weinglas und sagen Kiddusch. Das Trinken von Wein wird mit einem Gebet begleitet, das aus der Tiefe unserer Herzen kommt, im kommenden Jahr besser anzufangen.
Sie sollen mich nicht falsch verstehen: Wir sind völlig gegen die Antiweihnachts- oder Antisilvesterpartys, die an einigen Orten stattfinden. Wir wollen natürlich auch nicht, dass jemand Antichanukka oder Antipessach feiert. Wir leben unter Menschen und müssen ihren Glauben genauso respektieren wie sie unseren Glauben. Wir müssen unser Handeln gut überlegen, ohne uns in Ghettos oder hinter Mauern zu verstecken. Es ist wichtig, unseren Nachbarn, Bekannten und Freunden ein frohes neues Jahr zu wünschen. Aber ist es auch ein neues Jahr für uns? Sollen wir einen christlichen Feiertag auszeichnen, der, ohne viel in den Geschichtsbüchern zu blättern, das Volk Israel viele Tote gekostet hat?
Ohne deshalb das Thema Antisemitismus zu behandeln, müssen wir uns logischerweise die Frage stellen, wo die Grenze der Verwirklichung unserer einzigarti-
gen Identität als Juden liegt. Müssen wir wirklich auf allen Lebensebenen der umliegenden Öffentlichkeit teilnehmen? Begehen wir das Neujahrsfest der Türken, der Iraner oder jeder anderen Nation, die ihre Feiertage im Laufe des Jahres feiert? Schließlich hat jedes Volk und jede Nation ihre Folklore und Kultur, die es auszeichnet und jede legt eine eigene Grenze fest. Einheit bedeutet nicht, die Grenzen zu vertuschen. Die Silvesterfeier wird aus uns nicht bessere Bürger der Welt machen. Aber wenn wir Silvester nicht feiern werden, hilft uns das, noch einmal im Jahr mit der Familie zusammenzusitzen und darüber nachzudenken, was uns als Religion und Nation auszeichnet.
Wir werden auf alle Fälle den Champagner für das Neujahrsfest aufbewahren, aber für das der Schaffung der Welt und des Menschen.