Tagebuch des Peter Ginz

»Du stehst auch auf der Liste«

von Jonathan Scheiner

Es war nicht scherzhaft gemeint, als Petr Ginz’ Vater eine Postkarte an seinen in Theresienstadt inhaftierten Sohn mit der Aufforderung beendete »Esset nichts Verdorbenes« – als sei »Verdorbenes« die größte Sorge für den Halbwüchsigen gewesen. Vater Ginz hatte die Karte am 9. Juli 1944 in vollem Ernst geschrieben. Aus seiner Prager Perspektive konnte er die Zustände im Lager nicht erahnen. Ebensowenig, daß sein 14jähriger Sohn wenig später nach Auschwitz deportiert und dort ermordet werden würde.
Der schrecklich naive Satz findet sich in Petr Ginz’ Tagebuch. Eigentlich sind es zwei Tagebücher, entstanden zwischen dem 19. September 1941 und dem 9. August 1942. Die Lektüre berührt durch das Nebeneinander von Alltäglichem und der Lakonie, in der über die hereinbrechende Katastrophe Buch geführt wird. Da liest man: »Vormittags Schule, nachmittags zu Hause.« Und dann dringt der Horror in fast schon beiläufigen Bemerkungen ein: »Die Juden werden wohl ihre Pullover abgeben müssen.« Erfahrbar wird, wie die Prager Juden schleichend entrechtet wurden. Enteignungen, Verbot des Besitzes von Hygieneartikeln, Verbot, die »Elektrische« zu benut- zen, selbst für den weiten Weg zu dem »Hilfsdienst« genannten Zwangsarbeitseinsatz. Fast penibel listet Petr Bekannte und Verwandte auf, die »auf Transport gehen«, sprich, deportiert werden. Vater Ginz hat Glück, er ist plötzlich so schwer erkrankt, daß er nicht den Zug besteigen kann. Petr selbst erfährt, daß er auf der Transportliste steht, von einem Bekannten, der ihm die Hiobsbotschaft in nicht ganz angemessenem Tonfall überbringt: »Du bist auf der Liste, mach Dir nichts draus.« Das klingt fast, als sei ein Wochenendausflug ins Wasser gefallen.
Petr Ginz hat nur zwei Schreibheftchen mit seinen Tagebuchaufzeichnungen füllen können, bevor er ermordet wurde. Beide stammen aus der Zeit vor Theresienstadt. Petrs überlebende jüngere Schwe- ster Chava Pressburger hat die Tagebücher herausgegeben und ein Vorwort dazu geschrieben. Die heute in Israel als Malerin lebende Frau, die ihren Bruder das letzte Mal bei der Deportation nach Auschwitz sah (auch sie war in Theresienstadt), stellte sich, wie viele Überlebende, die bohrende Frage »Warum er und warum ich nicht?« Aus der Suche nach einer Antwort entstand dieses Buch.
Daß es einen Verlag fand, hat nicht nur mit der Qualität der Tagebücher als erschütterndem Zeitdokument zu tun. Petr Ginz hat Jahrzehnte nach seinem Tod traurige Berühmtheit erlangt: Als der erste israelische Astronaut Ilan Ramon am 1. Februar 2003 mit der Raumfähre Columbia beim Eintritt in die Erdathmosphäre verglühte, hatte er eine Kopie von Petr Ginz’ Zeichnung Mondlandschaft bei sich. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hatte sie ihm für seinen Sternenflug mitgegeben. Durch den Tod des Astronauten wurden das Bild und sein Maler plötzlich weltberühmt. Ein Tscheche erkannte in dem Namen Petr Ginz den Autor von zwei Tagebüchern ist, die er zufällig auf seinem Dachboden gefunden hatte. Er bot sie zum Verkauf an. Chava Pressburger erwarb die beiden Bändchen.
Dem Buch, das durch ein Vorwort von Mirjam Pressler und ein Nachwort von Leo Pavlát, dem Direktor des Jüdischen Museums in Prag, erweitert wurde, wurden auch einige Zeichnungen von Petr Ginz beigegeben. Dazu einige Fotografien der Familie Ginz. Auf dem Umschlag sieht man sie beim Möwenfüttern an der Moldau. Ein idyllisches Bild. Dabei hatte, als es aufgenommen wurde, der Horror schon angefangen.

petr ginz: prager tagebuch
Herausgegeben von Chava Pressburger
Übersetzt von Eva Profousová
Berlin Verlag, Berlin 2006, 160 S., 19,90 €

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