von Sophie Neuberg
Die Todesstrafe ruft immer wieder Politiker auf den Plan, die sich dafür stark ma-
chen, um beim Wähler zu punkten. Im Wahlkampf hat sogar der künftige US-Präsident Barack Obama die Todesstrafe für Kinderschänder gefordert. Eine beliebte Argumentation der Befürworter der Todesstrafe in den USA besteht darin, sich auf die Bibel zu berufen. »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde ge-
macht« (1. Buch Moses 9, 6). Könnte es ei-
ne unmissverständlichere Aufforderung zur Todesstrafe geben? Auf den ersten Blick nicht. In der Tora scheint alles klar zu sein: Wer einen Menschen tötet, muss von Menschenhand sterben. Deshalb könnte man annehmen, dass klassisches jüdisches Recht die Todesstrafe befürwortet.
Doch wie so oft ist die Realität schon immer viel komplexer gewesen und die Menschen haben sich über diese und an-
dere Verse der Bibel den Kopf zerbrochen und sie in ganz entgegengesetzte Richtungen interpretiert. Yair Lorberbaum, Professor für jüdisches Recht und Philosophie an der israelischen Bar-Ilan Universität, beschäftigt sich mit eben diesem, wie er es nennt, »Paradoxon der Todesstrafe«. Er ist Autor des in Israel preisgekrönten Buchs In the Image of God – Theosophy and Law in Classical Judaism.
Die Worte »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden« sind auf den ersten Blick sehr eindeutig, erläutert Lorberbaum. Sie dulden keine Verhandlung und keine Kompromisse, sagte er. Im Hebräischen werde die Verpflichtung noch deutlicher, weil der Satz nach dem Muster ABC-CBA aufgebaut ist: Aus dieser Symmetrie sei kein Entkommen möglich. Dabei war es im Altertum im Nahen Osten nicht nur so, dass es Blutrache gab. Vielmehr war es durchaus auch üblich, eine Art Lösegeld zu zahlen, um das Leben des Todgeweihten zu retten. Die Tora aber verbiete Lösegeld und Kompromisse: Wer einen Menschen töte, müsse sterben. Die Todesstrafe werde somit obligatorisch, so Lorberbaum.
Dieser Vers kommt im Anschluss an die Geschichte der Sintflut: Der Mensch ist mit dem Sündenfall von Gott abgefallen und Gott hat die Sintflut über ihn ge-
bracht. Anschließend schließt Gott nun mit Noah einen Bund und erlaubt ihm, Pflanzen und Tiere zu essen. Gott verbietet ihm jedoch, Blut von Tieren zu essen (»Allein esst das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist!«, 1. Buch Moses 9, 4) und Menschenblut zu vergießen (9, 6). Die Erläuterung hierfür wird gleich mitgeliefert: »Denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.« Ob-
wohl der Sündenfall stattgefunden hat, ist demnach der Mensch immer noch das Abbild Gottes. Dies habe zur Folge, dass Menschenmord das höchste Verbrechen sei, erklärt Lorberbaum, weil dadurch das Bild Gottes beschädigt werde. Und wer das tut, beschädigt das Göttliche.
Im Talmud wurde jedoch die Todesstrafe anders interpretiert, beziehungsweise fast unüberwindbaren Bedingungen un-
terstellt. Zum Beispiel war in der Antike ein Gerichtsverfahren schon fast die Ge-
währ dafür, dass jemand nicht zum Tode verurteilt wurde, erklärt Lorberbaum: »Es war fast unmöglich, jemanden schuldig zu sprechen«, erzählte er. »Man brauchte zwei glaubwürdige Zeugen und es durfte keinen dritten Zeugen geben, der ihnen widersprach.« Außerdem war ein Zeuge nur dann glaubwürdig, wenn er auch in nebensächlichen Aussagen die Wahrheit gesagt und den Verbrecher vor der drohenden Strafe gewarnt hatte. Somit war ein Gerichtsverfahren dazu da, Menschenleben zu retten.
Schon im 2. Jahrhundert finden sich in der Mischna rabbinische Interpretationen, wonach der Sanhedrin (das höchste jüdische Gericht in Jerusalem bis ins 1. Jahrhundert), der die Todesstrafe vollstreckt, sich des Mordes schuldig mache. Einige Rabbiner vertreten darin klar die Ansicht, sie hätten – wären sie Mitglieder des Sanhedrins gewesen – nie die Todesstrafe vollstreckt. »Dies ist die älteste mir bekannte Quelle, welche die Todesstrafe grundsätzlich ablehnt«, sagt Lorberbaum.
Rabbinische Interpretationen beschäftigten sich eingehend mit dem Begriff »Bild Gottes« und bis heute sei dieses Thema ein Rätsel der Philosophie, so Lorberbaum. Wenn man ein Bild betrachte, betrachte man eine Person, die zugleich irgendwie »im Bild« sei, aber trotzdem nicht da. »So ist es auch, wenn wir Fußball im Fernsehen verfolgen«, erklärt er: »das Spiel ist nicht hier, aber irgendwie ist es doch hier. Wir haben das Gefühl, mitten im Spiel zu sein. Wer das Bild Gottes beschädigt, beschädigt demnach Gott selbst – oder etwa nicht?«
Genau dieses Rätsel ist nach Ansicht Lorberbaums wahrscheinlich der Grund, warum die Todesstrafe in Israel kaum jemals angewendet wurde: Die einzige Vollstreckung, die jemals stattgefunden hat, war die Adolf Eichmanns, der 1962 als NS-Verbrecher hingerichtet wurde. 1954 wurde die Todesstrafe im Zivilstrafrecht abgeschafft und, obwohl sie 1979 für Ter-
roristen wieder eingeführt wurde, ist von dieser Möglichkeit seitdem noch nie Ge-
brauch gemacht worden. Die Erklärung Lorberbaums hierfür lautet: Wenn das Bild Gottes nicht beschädigt werden darf, darf auch keine Todesstrafe vollstreckt werden. Denn es wäre wiederum genau das Gleiche wie ein Mord, nämlich das Töten eines Menschen, der das Abbild Gottes ist beziehungsweise das Bild Gottes in sich trägt.
Martin Heger ist Mitorganisator der Veranstaltungsreihe »Berliner Studien zum jüdischen Recht« der Humboldt-Universität, an der Yair Lorberbaum unlängst zu Gast war. Für Heger ist der Verweis auf die Tora eher von kulturell-historischem Interesse, als dass es für seine Praxis relevant wäre. Trotzdem stellte er fasziniert fest, wie widersprüchlich Interpretationen der Bibel sein können: »In den USA wird oft die Bibel zitiert, um die Todesstrafe zu rechtfertigen.« Lorberbaum hingegen erläutere aus der Position des jüdischen Rechts genau das Gegenteil. Tatsächlich lehnen heute die großen christlichen Kirchen in Europa und den USA die Todesstrafe ab, nicht nur mit dem Argument, der Mensch sei das Abbild Gottes, sondern auch aufgrund des Gebots »Du sollst nicht töten«, und wegen der Gefahr eines Justizirrtums. Kleinere Kirchen gerade in den USA rechtfertigen sie hingegen oft. Und Barack Obama war sicherlich nicht der letzte US-Präsidentschaftskandidat, der mit der Forderung nach einer strengeren Anwendung der Todesstrafe beim Wähler zu punkten versuchte.