Das Sechste Gebot

Du sollst nicht morden ...

von Eliezer Segal

Für alle, die mit dem hebräischen Originaltext der Bibel vertraut sind, herrscht kein Mangel an Gelegenheiten, Ungenauigkeiten und mißverständliche Ausdrücke in den von Nichtjuden verwendeten Übersetzungen zu beklagen. Vielen dieser Unstimmigkeiten liegen eindeutig theologische Motive zugrunde, da christliche Übersetzer Passagen des Alten Testaments neu schrieben, um aus ihnen Vorhersagen oder Urbilder des Lebens Jesu zu machen. Einige der Fehlübersetzungen sind hingegen schwieriger zu erklären.
Einer der ärgerlichsten Fälle war für mich immer die Übersetzung des Sechsten Gebotes: »Du sollst nicht töten«. In dieser Form wird das Zitat in den Dienst der unterschiedlichsten Anliegen gestellt: des Pazifismus, der Tierrechte, des Kampfs gegen Todesstrafe oder Abtreibung.
Gewiß ist »töten« auf deutsch ein umfassendes Verb, das alle Arten, jemanden ums Leben zu bringen, beinhaltet und für alle Arten von Opfern gilt. Diese allgemeine Bedeutung wird im Hebräischen durch das Verb »harag« ausgedrückt. Das Verb jedoch, das in der Tora für das Gebot verwendet wird, ist ein ganz anderes, nämlich »ratsah«, das mit »morden« übersetzt werden sollte. Diese Wurzel bezieht sich nur auf verbrecherische Tötungshandlungen.
Selbstverständlich ist es nicht bloß eine Frage der Etymologie. Alle Ideologien, die das Gebot für ihre menschenfreundlichen Anliegen ins Feld führen, sehen sich gezwungen, alle jene Stellen in der Bibel zu ignorieren, die den Krieg, das Schlachten von Opfertieren und eine ganze Reihe von Methoden, die Todesstrafe zu vollstrecken, entschuldigen oder gar gebieten.
Die gute alte englische King-James-
Bibel, durch die diese Formulierung in die englische Standardsprache gelangte, ist normalerweise viel genauer in ihrem gelehrten Umgang mit dem hebräischen Original. Und viele Jahre wunderte ich mich, wie den gebildeten Philologen, die diese ausgezeichnete Übersetzung anfertigten, bei einem so einfachen Ausdruck – den jedes jüdische Schulkind verstanden hätte – ein solcher Fehler unterlaufen konnte.
Wie sich herausstellt, hat die Verwirrung ihren Ursprung nicht in der englischen Übersetzung des 16. Jahrhunderts. Aus den Schriften jüdischer Exegeten des Mittelalters, die in Frankreich lebten, erfahren wir, daß auch die Nichtjuden in ihrer Umgebung das biblische Gebot falsch übersetzten.
Zwei der bedeutendsten Kommentatoren ihrer Zeit, Rabbi Samuel ben Meir (Raschbam) und Rabbi Joseph Bekhor-Schor, zum Beispiel erkannten die Notwendigkeit, außergewöhnlich ausführlich zu erläutern, daß sich der hebräische Text nur auf ungesetzliches Töten bezieht. Beide Gelehrte arbeiteten den Unterschied zwischen den hebräischen Wurzeln für »töten« und »morden« klar heraus und belegten mit zahlreichen Beispielen, daß die Tora andere Arten des Tötens toleriert.
Raschbam schließt seine Abhandlung über das Thema mit folgenden Worten: »Und dies ist eine Widerlegung der Häretiker, und sie haben es mir zugestanden. Wenn ihre eigenen Bücher sagen: ›Ich bin es, der tötet und der lebendig macht’ (5. Buch Moses 32,39) – und dafür dieselbe lateinische Wurzel gebrauchen wie für ›Du sollst nicht morden’ – sind sie nicht exakt.«
Den Worten dieser französischen jüdischen Gelehrten entnehmen wir, daß die Übersetzung »Du sollst nicht töten« auf der lateinischen Bibelübersetzung beruht, wie sie die römisch-katholische Kirche im Mittelalter verwendete.
In der Tat gebraucht die Vulgata – wie diese Übersetzung genannt wird – das lateinische Verb occidere, das eher der Bedeutung von »töten« und nicht von »morden« entspricht. Indem er darlegt, daß die Vulgata im Deuteronomium die Wurzel occidere gebraucht, wenn der Allmächtige selbst von Seiner Macht über das Leben seiner Geschöpfe spricht – in einem Kontext, in dem es unter gar keinen Umständen mit »morden« übersetzt werden könnte –, weist Raschbam offensiv den Fehler im traditionellen christlichen Verständnis des Sechsten Gebotes nach. Daher überrascht es nicht, zu hören, daß seine christlichen Gesprächspartner ihren Irrtum kampflos zugaben.
Dies wirft einige zusäzliche schwierige Fragen zur Lateinübersetzung der Vulgata auf. Der Verfasser dieser Übersetzung, der heilige Hieronymus (gestorben 420 u. Z.), verbrachte viele Jahre im Land Israel, wo er sich häufig mit jüdischen Gelehrten beriet, deren Deutungen er mit großem Respekt zitierte. Selbst die Septuaginta, die alte griechische Übersetzung der Bibel, übertrug das Gebot mit einem Wort, das nicht »töten«, sondern »morden« bedeutet. Der heilige Augustinus, der sich auf die Standard-Übersetzungen stützt, läßt keinen Zweifel daran, daß das Gebot sich nicht auf Kriege oder die Todesstrafe bezieht, die ausdrücklich von Gott bestimmt sind.
Doch die Tatsache bleibt bestehen, daß auch die jüdischen Übersetzer bei der Unterscheidung der verschiedenen hebräischen Wurzeln nicht immer einer Meinung waren.
Don Isaac Abravanel und andere heben hervor, daß »ratsah« im 4. Buch Moses (35, 27-30) gebraucht wurde, wo es um einen berechtigten Fall von Blutrache und um die Todesstrafe geht – beides fällt nicht unter die Kategorie von »morden«.
Auch einige bedeutende jüdische Philosophen waren der Überzeugung, daß »Du sollst nicht töten« eine exakte Übersetzung des Sechsten Gebotes ist. Maimonides (Rabbi Moshe ben Maimon) beispielsweise schrieb, daß sich bei der Tötung eines Menschen in jedem Fall um eine Verletzung des Gebotes handelt, auch dann wenn mildernde Umstände die Übertretung gegenstandslos machen. Manche haben behauptet, daß diese Tradition der faktischen Aufhebung der Todesstrafe im rabbinischen Gesetz zugrunde liegt.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, fällt es uns nicht schwer, einzugestehen, daß »Du sollst nicht töten« nicht einfach nur das Ergebnis von Unwissenheit auf Seiten von Hieronymus oder der Übersetzer der King-James-Bibel ist. Sondern daß sich darin die legitime Entscheidung ausdrückt, die ganze Skala möglicher Bedeutungen der hebräischen Wurzel abzudecken.
Wie so oft lehrt uns eine genauere Untersuchung, daß das, was zunächst lachhaft offenkundig ist, in Wahrheit viel komplexer ist, als es beim ersten Blick zu sein scheint. Wir müssen sehr vorsichtig sein, bevor wir über einen scheinbaren Patzer ein voreiliges Urteil fällen.

Der Autor ist Dozent an der Universität von Calgary/Kanada

Wittenberg

Luthergedenkstätten untersuchen ihre Sammlung auf NS-Raubgut

Zwischen 1933 und 1945 erworbene Objekte werden analysiert

 19.02.2025

Braunau

Streit über belastete Straßennamen im Hitler-Geburtsort

Das österreichische Braunau am Inn tut sich weiter schwer mit seiner Vergangenheit. Mehrere Straßen tragen nach wie vor die Namen bekannter NS-Größen. Das soll sich nun ändern

 13.02.2025

Bund-Länder-Kommission

Antisemitismusbeauftragte fürchten um Finanzierung von Projekten

Weil durch den Bruch der Ampel-Koalition im vergangenen Jahr kein Haushalt mehr beschlossen wurde, gilt für 2025 zunächst eine vorläufige Haushaltsplanung

 12.02.2025

Österreich

Koalitionsgespräche gescheitert - doch kein Kanzler Kickl?

Der FPÖ-Chef hat Bundespräsident Van der Bellen über das Scheitern der Gespräche informiert

 12.02.2025

Düsseldorf

Jüdische Zukunft: Panel-Diskussion mit Charlotte Knobloch

Auf dem Podium sitzen auch Hetty Berg, Armin Nassehi und Philipp Peyman Engel

 11.02.2025

Sport

Bayern-Torwart Daniel Peretz trainiert wieder

Der Fußballer arbeitet beim FC Bayern nach seiner Verletzung am Comeback

 09.02.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  05.02.2025

USA/Israel

Trump empfängt Netanjahu im Weißen Haus

Als erster ausländischer Staatsgast in Trumps zweiter Amtszeit kommt der israelische Regierungschef nach Washington. In dem Republikaner hat der israelische Besucher einen wohlwollenden Unterstützer gefunden

 04.02.2025

Düsseldorf

Igor Levit: Bin noch nicht fertig mit diesem Land

Am Klavier ist er ein Ausnahmekönner, in politischen Debatten meldet er sich immer wieder zu Wort. 2020 erhielt der jüdische Künstler das Bundesverdienstkreuz - das er nun nach eigenen Worten fast zurückgegeben hätte

 03.02.2025