von Benjamin Hammer
Nein, ich bilde mir das nicht ein. Die Leute starren mich an. Es ist Freitagmittag, die U-Bahn ist brechend voll, Linie 3, Richtung Köln-Holweide. Ich fahre oft mit dieser Bahn, mache mir keine großen Gedanken über die anderen Fahrgäste. Heute ist das anders. Auf meinem Kopf trage ich eine blaue Kippa. Ein älterer Mann schaut mich an: Einmal, zweimal, mehrmals. Ich werde unsicher, stelle mich in eine Ecke, den Hinterkopf an die Scheibe gedrückt.
Nach dem Anschlag auf einen jüdischen Kindergarten in Berlin (vgl. S. 17) hatte Berlins Gemeindevorsitzender Gideon Joffe Nicht-Juden zum Kippa-Test aufgefordert. Sie sollten einmal einen Tag lang mit einer Kippa durch die Stadt laufen. Nur so könnten sie spüren, wie viel Antisemitismus in Deutschland existiere.
Ich jedenfalls habe Angst. Aber warum eigentlich? Schließlich war ich noch nie Zeuge einer antisemitischen Tat. Kommt es nicht einer Vorverurteilung der Gesellschaft gleich, wenn ich schon am Anfang des Tests das Schlimmste erwarte? Es sind die Erzählungen jüdischer Freunde, die mich beunruhigen. Eine Bekannte erzählte von Neonazis, die eine jüdische Jugendgruppe auf einem Bahnhof bedrohten – die Jungen trugen Kippot. Und es sind die Zahlen: Seit 2004 sei die Zahl antisemitischer Übergriffe um 50 Prozent gestiegen, sagt Gideon Joffe.
Haltestelle Friesenplatz. Ein Roma-Junge steigt ein und spielt Akkordeon. Ich habe das Gefühl, dass die Leute jetzt nicht mehr mich angaffen, sondern den Jungen. Er- leichterung, auch wenn der Junge mir leidtut. Den Gang runter sitzt eine Frau im Rollstuhl. Sie, der Roma-Junge und heute auch ich – wir gehören Minderheiten an. Schauen die Leute uns an, weil wir ungewöhnlich sind? Oder haben sie etwas gegen uns?
Es ist nicht leicht zu erkennen, ob die Leute von einem Böses denken oder einfach nur neugierig sind. Am Eingang zu einer großen Buchhandlung am Neumarkt steht ein Sicherheitsmann. Er sieht irgendwie arabisch aus. Ich gehe in den zweiten Stock und suche nach einem Geburtstagsgeschenk. Auf einmal kommt der Mann die Rolltreppe hoch, stellt sich hin und blickt zu mir herüber. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, 15 Sekunden. Mein Herz pocht. Wir schauen uns an. Es ist das erste Mal, dass ich mir relativ sicher bin: Da schaut jemand böse, weil du eine jüdische Kopfbedeckung trägst.
Schildergasse, Kölns größte Einkaufsmeile. Im Kopf Geschichten von antisemitischen Übergriffen. Einmal wurde ein kanadischer Tourist in Berlin auf offener Straße überfallen. Ein Jude, der eine Kippa trug. »Aber Köln ist doch eine tolerante Stadt«, sage ich mir. Ein Drittel der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund, zehn Prozent sollen homosexuell sein. Zwei Frauen zeigen auf mich. »Was ist los?«, frage ich. »Wir wollten schon immer mal wissen, wie die Dinger halten«, antwortet eine freundlich und zeigt auf meine Kippa. Ich zeige den Frauen die Haarspange, mit der die Kippa festgemacht wird. »Sonst hätte ich das mal meine jüdische Freundin gefragt«, sagt die andere Frau. Vielleicht ist Köln ja wirklich eine tolerante Stadt. Doch auf der Rückfahrt werde ich noch einmal nervös. In der U-Bahn trägt ein Mann eine Bomberjacke von »Londsdale«. Die Marke ist vor allem bei Neonazis beliebt, weil der Name die Buchstaben NSDA enthält. Nur ein P fehlt. Schon wieder drücke ich meinen Hinterkopf an die Fensterscheibe. Aber der Mann nimmt keine Notiz von mir.
U-Bahnhof Piusstraße, Köln-Ehrenfeld. Als ich die Treppe hochlaufe, ruft ein Mädchen plötzlich schrill: »Du bist ein Jude!« Vor mir stehen etwa zehn türkische Jugendliche. Die Jungs bleiben kurz stehen und mustern mich. Blickkontakt. Sie sind wohl erst 14 Jahre alt. Schon wieder pocht mein Herz. Dann laufen sie weiter.
In der Venloer Straße nehme ich die Kippa ab. Das ist mir unangenehm, denn einem Juden fällt das bestimmt nicht so leicht. Antisemitismus auf deutschen Straßen? Kann man das nach einem Tag beurteilen? Vielleicht ist es auch nicht nötig: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sagte dem Berliner Tagesspiegel, man müsse es nicht eigens testen, um zu verstehen, wie viel Antisemitismus es in Deutschland nach wie vor gibt. Vielleicht hat er recht.