von Rabbi Nechemia Coopersmith und Rabbi Moshe Zaldman
Wem hat Gott die Tora am Berg Sinai gegeben? Die meisten Menschen antworten: »Es war Moses, dem Gott die Tora gegeben hat.« Und was hat das jüdische Volk gemacht, als Moses die Tora empfing? »Das Goldene Kalb angebetet.« Richtige Antworten – aber nicht laut der Bibel.
Die genannten Antworten stammen aus Cecil B. DeMilles Klassiker Die Zehn Gebote. Verblüffend, was für eine Wirkung ein einziger Film auf die Erziehung von Generationen von Juden haben konnte. Es ist ein großartiger Film, aber DeMille hätte das Original lesen sollen.
In der Tora steht eine ganz andere Version der Ereignisse. Dort wird die Behauptung aufgestellt, das ganze jüdische Volk habe Gott vom Berg Sinai sprechen hören und eine nationale Offenbarung erlebt. Gott erschien nicht Moses allein bei einem privaten Rendezvous. Er erschien allen, etwa drei Millionen Menschen. Diese Behauptung wird in der biblischen Schrift oft wiederholt: »Und der Ewige redete zu euch mitten aus dem Feuer. Den Laut der Worte hörtet ihr, aber ein Bild sahet ihr nicht, außer dem Laute. « (5. Buch Moses 4,12)
Die Tora erklärt, das ganze jüdische Volk habe Gott am Sinai sprechen hören, eine Behauptung, die mehr als 3.000 Jahre lang anerkannter Teil der Nationalgeschichte war. DeMilles Fehler ist deshalb so gravierend, weil der jüdische Anspruch auf eine nationale Offenbarung – im Gegenteil zu einer individuellen Offenbarung – das maßgebliche Ereignis ist, durch das sich das Judentum von allen anderen Religionen der Welt unterscheidet. Wieso?
Jede nationale Überlieferung kennt zwei Arten von Erzählungen: die Legenden und die Geschichte. Eine Legende ist eine unbestätigte Erzählung. Es liegt in der Natur von Legenden, daß sie nicht verifizierbar sind, da es nur wenige Augenzeugen für sie gibt. Die Legende ist nicht notwendigerweise falsch, sondern nur nicht verifizierbar. Keiner glaubt, daß Legenden Tatsachen sind, daher werden sie nicht als verbürgte Geschichte akzeptiert.
Geschichte aber besteht aus Ereignissen, von denen wir wissen, daß sie tatsächlich geschehen sind. Aufschluß über den Wahrheitsgehalt einer Behauptung ermöglicht unter anderen die Feststellung, daß es für ein bestimmtes Ereignis eine große Anzahl von Augenzeugen gibt. Das Wesen der Behauptung selbst entscheidet oft, welchen Glaubwürdigkeitsgrad sie besitzt.
Könnte also die Offenbarung am Sinai eine brillante Täuschung gewesen sein, die Millionen von Menschen glauben machte, Gott habe zu ihnen gesprochen?
Stellen wir uns die Szene vor: Moses steigt vom Berg herunter und erklärt: »Wir alle haben heute Gott gehört, alle von euch haben die Stimme Gottes aus dem Feuer sprechen hören ...« Angenommen, Moses erfindet das einfach, wie würden die Menschen auf seine Story reagieren? »Moses! Wovon redest du? Wir haben Gott nicht aus irgendeinem Feuer zu uns sprechen hören!«
Zu einem späteren historischen Zeitpunkt vielleicht hätte man es mit einem Schwindel wie diesem versuchen können. Vielleicht stammt die Erklärung einer nationalen Offenbarung gar nicht vom Sinai, sondern eine solche wurde erst sagen wir 1.000 Jahre nach dem angeblichen Ereignis geltend gemacht. Vielleicht tritt der Prophet Esra auf den Plan und zeigt ein Buch vor, das von Gott geschrieben und von Ihm einem Volk gegeben worden sei, das vor langer Zeit am Sinai lagerte? Kann jemand mit einer solchen Manipulation erfolgreich sein? Ein Ereignis von solcher Tragweite und mit einer großen Zahl von Augenzeugen kann auf Dauer nicht als Lüge aufrechterhalten werden. Wenn es nicht wirklich geschehen ist, wüßten alle, daß es falsch ist, weil keiner je davon gehört hat. Wenn also ein solches Ereignis als Teil der Geschichte allgemein anerkannt wurde, ist dies nur zu verstehen, wenn das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat.
Nehmen wir für einen Moment an, die Offenbarung am Berg Sinai sei in Wirklichkeit nur ein Schwindel gewesen. Gott hat die Tora nicht geschrieben. Weshalb dann wurde die Offenbarung am Berg Sinai über tausende Jahre als Teil der Geschichte unseres Volkes anerkannt?
Stellen Sie sich vor, wie jemand versucht, einen derartigen Betrug in Szene zu setzen. Eine Esra-Gestalt taucht eines Tages auf und hält eine Schriftrolle in den Händen. »Das ist die Tora.« – »Die Tora? Was ist das?« – »Es ist ein erstaunliches Buch, voll mit Gesetzen, mit Geschichten und Erzählungen. Hier, sieh mal.« – »Ganz hübsch, Esra. Woher hast du es?« – »Dieses Buch wurde euren Vorfahren vor tausenden Jahren gegeben. Drei Millionen lagerten in der Wüste Sinai und hörten Gott sprechen! Gott erschien allen und gab ihnen Seine Gesetze und Seine Lehre.«
Wie würden die Menschen auf eine solche Behauptung reagieren? Das Volk sieht Esra skeptisch an und sagt: »Warte mal, Esra. Irgend etwas stimmt hier nicht. Wieso haben wir nie etwas davon gehört?«
So wie man mit einem Märchen über einen versunkenen Kontinent aufläuft, funktioniert es auch nicht, ein ganzes Volk zum Spaß davon zu überzeugen, daß seine Vorfahren das einzigartigste Ereignis in der menschlichen Geschichte erlebt hätten. Jeder wüßte sofort, daß es eine Lüge ist. Tausende Jahre wurde anerkannt, daß die Geschehnisse am Berg Sinai im Zentrum der jüdischen Geschichte stehen. Welche andere Erklärung gibt es dafür?
Nur ein einziger Sachverhalt kann erklären, warum ein Volk einer solchen Behauptung Glauben schenkt: Es ist die Wahrheit. Wenn die Ereignisse nicht stattgefunden hätten, würde jeder wissen, daß es eine Lüge ist. Zu behaupten, ein Volk habe eine Offenbarung erlebt, ist nur möglich, wenn es wahr ist.
Im Laufe der Geschichte wurden zehntausende von Religionen von Individuen begründet, die versuchten, die Menschen zu überzeugen, daß Gott zu ihm oder ihr gesprochen habe. Alle Religionen, die auf einer Offenbarung gründen, haben im wesentlichen denselben Beginn: Ein heiliger Mensch verbringt einige Zeit in der Einsamkeit, kehrt zu seinem Volk zurück und verkündet, er habe eine persönliche Offenbarung erlebt, in der Gott ihn zum Propheten ernannte.
Würden Sie jemandem glauben, der behauptet, er habe eine persönliche Botschaft von Gott erhalten und Gott habe ihn oder sie zu Seinem neuen Propheten ernannt? Vielleicht stimmt es. Vielleicht aber auch nicht. Man wird es nie mit Sicherheit wissen. Die Behauptung als solche läßt sich nicht verifizieren.
Die persönlich erlebte Offenbarung ist eine äußerst schwache Grundlage für eine Religion, da man nie wissen kann, ob sie tatsächlich wahr ist. Auch wenn derjenige, der eine persönliche Offenbarung für sich in Anspruch nimmt, Wunder wirkt, ist das kein Beweis dafür, daß er ein echter Prophet ist. Wunder beweisen gar nichts. Sie beweisen – vorausgesetzt, sie sind echt –nur, daß jemand über gewisse Kräfte verfügt. Mit dem Anspruch, ein Prophet zu sein, hat es nichts zu tun.
Es gibt 15.000 bekannte Religionen in der aufgezeichneten Geschichte. Warum gründen sie alle ihren Gültigkeitsanspruch auf eine persönliche Offenbarung, deren Schwächen wir gesehen haben? Würde nicht jeder, der seine Religion anerkannt sehen will, sie auf die stärkstmögliche, glaubwürdigste Behauptung gründen – das heißt auf eine an das ganze Volk gerichtete Offenbarung! Das ist viel glaubwürdiger.
Warum würde Gott seine gesamte Beziehung zu einem Volk über einen einzigen Mann herstellen, ohne Möglichkeit der Verifikation? Und warum würde er auch noch erwarten, daß dieses Volk ein komplexes System an Vorschriften befolgt – gegründet auf blindem Glauben?
Das Judentum ist die einzige Religion in den Annalen der Menschheit, die die bestmögliche Behauptung aufstellt: daß alle es hörten, als Gott sprach. Keine andere Religion kennt die Erfahrung einer nationalen Offenbarung. Darüber hinaus prophezeit der Autor der Tora, daß es in der Geschichte niemals wieder eine Nationale Offenbarung geben wird!
»Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach von einem Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses, und hat man je solche Worte gehört? Hat je ein Volk einen Gott mitten aus dem Feuer im Donner sprechen hören, wie du ihn gehört hast, und ist am Leben geblieben?« (5. Buch Moses 4,32-33)
Wir wollen noch einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß nicht Gott die Tora geschrieben hat und es dem Autor gelungen sei, eine Gruppe von Menschen dahinzubringen, fälschlicherweise an eine nationale Offenbarung zu glauben. In dieses Buch schreibt der Autor eine Prophezeiung nieder, daß im Lauf der Geschichte niemand mehr einen solchen Anspruch erheben wird. Das heißt, sollte jemand zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft den Anspruch auf eine nationale Offenbarung erheben, wird sich die Prophezeiung als falsch erweisen und seine Religion am Ende sein.
Doch es ist eine Tatsache, daß außer dem jüdischen Volk am Berg Sinai kein anderes Volk jemals die Behauptung einer nationalen Offenbarung für sich in Anspruch genommen hat. Darüber hinaus ist interessant, daß andere Weltreligionen die jüdische Offenbarung am Sinai, inklusive der fünf Bücher Moses, in ihrer Bibel für wahr halten und die Sinai-Offenbarung als einen Bestandteil ihrer Religion sehen.
Warum bauten sie auf der jüdischen Behauptung auf, als sie ihre eigenen Religionen begründeten? Warum haben sie nicht geleugnet, daß die Offenbarung jemals stattgefunden hat? Die Antwort ist, daß sie wußten, eine nationale Offenbarung kann nicht fabriziert werden; deshalb kann ihre Gültigkeit niemals geleugnet werden.
Jetzt ist es verständlich, wie der Autor der Tora voller Zuversicht prophezeien kann, daß es die Behauptung einer nationalen Offenbarung in der Geschichte kein zweites Mal geben wird. Weil allein Gott wußte, daß das Ereignis nur ein einziges Mal stattfinden wird, so wie es stattfand – am Sinai vor mehr als 3.000 Jahren.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.aish.com, einer der führenden jüdischen Websites