Meine Woche beginnt am Montagmorgen früh um 6 Uhr. Mein Wecker klingelt, ich stehe auf. Wenn ich Glück habe, schläft mein Sohn noch, und ich darf dann eine halbe Stunde ganz allein in Bad und Küche sein. Anschließend wecke ich den Kleinen. Er ist jetzt anderthalb Jahre alt. Elon ist sein Name. Das klingt ein bisschen wie Leon – so heißt mein Großvater, und diese Verbindung zwischen den beiden finde ich sehr schön. Also, wir zwei frühstücken in Ruhe, und danach bringe ich Elon in die Kita. Die ist hier gleich um die Ecke.
Dann ist es kurz vor acht, und ich fahre mit dem Rad von Prenzlauer Berg zum Leipziger Platz. Dort im Mosse-Palais arbeite ich beim American Jewish Committee, einer Organisation mit Hauptsitz in New York, die weltweit für Pluralismus, Demokratie und gegenseitigen Respekt eintritt. Dreißig Stunden pro Woche bin ich dort. Ich betreue ein Demokratie-Bildungsprogramm für Schüler und Lehrer. Ich habe Unterrichtseinheiten entworfen, Kontakte zu Schulen aufgebaut. Und nun trainiere ich Lehrer, diese Ideen umzusetzen.
Um 16 Uhr muss ich los, um Elon aus der Kita abzuholen. Alles ist durchgeplant. Die Kollegen können länger bleiben, bei mir geht das nicht. Ich sage dann: Morgen geht’s weiter, mein Kind wartet. Nur so funktioniert es, wenn man alles selbst schultern muss. Denn unter der Woche bin ich derzeit allein. Mein Mann arbeitet in Weimar am deutschen Nationaltheater. Er ist dort Assistent des Werkstattleiters und verantwortlich für die Umsetzung der Bühnenbilder. Er kommt nur am Wochenende nach Hause. Um unseren Sohn kümmere ich mich bis dahin allein.
Wenn ich dann am Nachmittag mit Elon nach Hause komme, bin ich nur für ihn da. Das ist unsere Zeit, meine ganze Aufmerksamkeit gilt ihm. Ich bin immer wieder überrascht, welch eigenen Kopf dieser kleine Mensch schon hat, wie klar er seine eigenen Pläne verfolgt. Faszinierend! Zwischen 19.30 und 20 Uhr geht Elon ins Bett. Er ist sehr pflegeleicht: Drei Lieder – und er schläft. Das ist wirklich ein Phänomen. Andere Eltern kämpfen Abend für Abend mit ihren Kindern. Ich mache nur leise das Licht aus und setze mich wieder an die Arbeit. Ich kümmere mich dann oft bis Mitternacht um mein großes Hobby – unser Elternmagazin »Familienmentsch«. Ich gebe es zusammen mit meiner Freundin Anja Spiller heraus.
Der Titel »Familienmentsch« steht für eine rundum anständige Persönlichkeit. Das Heft soll die »kleinen Leute« und ihre Eltern begleiten und ihnen Hilfe dabei bieten, Menschen zu werden. Menschen, die sich im Leben behaupten, ohne permanent die Ellbogen zu gebrauchen. Vier Ausgaben soll es pro Jahr geben, und das setzt mich ganz schön unter Druck. Nicht nur, weil die Finanzierung unklar ist und wir immer nach Möglichkeiten suchen müssen, sondern auch, weil wir das ganze Heft gestalten. Wir beide schreiben Artikel, vergeben Aufträge, redigieren eingehende Texte, kümmern uns um Anzeigen und Sponsoren sowie den Vertrieb. Das alles ist enorm viel Arbeit. Die Auflage liegt inzwischen bei 2.000 Exemplaren weltweit, und wir verbringen ganze Sonntage allein mit dem Etikettieren. Es gibt so viel zu tun: E-Mails beantworten, Rechnungen verschicken. Mein Mann scherzt immer: Der »Familienmentsch« ruiniert unser Familienleben. Aber es macht uns eben auch große Freude. Und wir haben schon richtig tolle Leute dadurch kennengelernt.
Gerade kürzlich habe ich eine türkische Jüdin getroffen, die Kinderbücher illustriert. Sie macht wunderschöne Sachen. Das muss man veröffentlichen. Ich versuche zumindest, all diese Ideen miteinzubauen. Inzwischen sehe ich fast alles mit »Familienmentsch« im Hinterkopf. Bei einem interessanten Artikel denke ich: Den Namen muss ich mir merken. Oder: Vielleicht ist das etwas für unsere Leser. Oder: Das wäre sicher spannend für eine der nächsten Ausgaben. So gesehen verbringe ich weit mehr als 20 Stunden pro Woche mit unserem Magazin.
Erst der Samstag ist ein ruhiger Tag, ein echter Familientag. Mein Mann ist dann in Berlin, und der Computer bleibt 24 Stunden lang aus. Das empfinde ich als sehr befreiend. Abschalten, für den Alltag nicht erreichbar sein. An diesen Tagen gibt es keinen Plan, und das ist gut. Manchmal besuchen wir Freunde, manchmal gehen wir spazieren. Aber es geht nur um uns drei, um das Zusammensein.
Am Sonntag fange ich langsam wieder an, etwas für den »Familienmentsch« zu tun. Kürzlich waren wir aber auch in Ausstellungen. Im Jüdischen Museum haben wir uns »Bilder aus Israel« angesehen und im Museum für Kommunikation eine Ausstellung über berufstätige junge Mütter. Was manche Menschen auf sich nehmen können – so viel Arbeit, so viele Belastungen! Ich war sehr überrascht.
Bei mir gibt es auch noch zwei weitere Projekte: Zum einen habe ich den Auftrag bekommen, die Familiengeschichte eines jüdischen Amerikaners aus Santa Monica, Kalifornien, zu recherchieren. Seine Großmutter stammt aus Leipzig. Ich mache das jetzt schon seit fast einem Jahr. Das andere Projekt ist eine Ausstellung mit der Jüdischen Gemeinde Dresden, meiner Heimatgemeinde. In Dresden wurde ich 1974 geboren, dort bin ich aufgewachsen, und wenn ich zum Gottesdienst gehe, dann dort.
Zu Pessach 2005 hatte man mich angesprochen, ob ich nicht Interesse hätte, eine Ausstellung mitzugestalten, bei der die Gemeindemitglieder einander vorgestellt werden. Die Idee dazu entstand, nachdem es Spannungen zwischen Zuwanderern und den alten Gemeindemitgliedern gegeben hatte. Sie haben mich gefragt, weil ich damals Bildungsreferentin im Jüdischen Museum Berlin war. Ich habe sofort zugesagt, es war mir aber nicht klar, wie viel Arbeit das werden würde. Inzwischen ist es geschafft, vor zehn Tagen wurde die Ausstellung eröffnet. Sie heißt »Brüder und Fremde – Alle unter einem Dach«. Zu sehen sind Porträts und mit Video aufgezeichnete Interviews, die ich geführt habe. Die Ausstellung ist schön geworden, aber ich bin froh, dass die Sache nun abgeschlossen ist. Mir fehlte zuletzt Zeit für mich. Ich hätte gerne ein paar freie Stunden zum Lesen. Für gute Bücher brauche ich Ruhe, aber ich kann nicht alles haben. Derzeit ist es so.
Am Sonntagabend fährt mein Mann dann wieder nach Weimar. Ich bringe ihn mit Elon um sieben Uhr zum Hauptbahnhof. Jede Woche ein Abschied. Doch ich könnte niemals so viel arbeiten, wenn er hier in Berlin wäre. Seit dreieinhalb Jahren leben wir schon mit dieser Pendel-Situation, und es hat sich eingespielt. Wir telefonieren täglich, so sind wir immer füreinander da. Und irgendwann findet er ja vielleicht eine Stelle in Berlin.
Aufgezeichnet von Holger Biermann