von Sophie Neuberg
Anfang des 20. Jahrhunderts waren Juden vom Staatsdienst meist ausgeschlossen, der Arztberuf hingegen bot ihnen eine gute Aufstiegsmöglichkeit. Das Studium der Medizin war unter anderem deshalb unter Juden sehr beliebt, weil es ihnen »Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Status und relative Freiheit von beruflicher Diskriminierung« versprach, wie die Historikerin Rebecca Schwoch in ihrem Gedenkbüchlein Jüdische Kassenärzte rund um die Neue Synagoge schreibt.
Im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin spürt sie die Lebensläufe jüdischer Ärzte in Berlin auf. Das soeben erschienene Büchlein (Reihe Jüdische Minia-
turen, herausgegeben von Hermann Simon, Berlin 2006) bietet einen Vorgeschmack auf das geplante umfangreiche Gedenkbuch. Von den rund 8.000 Ärzten, die 1933 in Berlin arbeiteten, waren etwa 3.000 jüdisch, davon schätzungsweise 2.000 Kassenärzte. Die Nazis schlossen sie nach und nach aus der Ärzteschaft aus.
Rebecca Schwoch versucht, die unrühmliche Rolle der Kassenärztlichen Vereinigung und anderer Standesorganisationen bei diesem Prozeß zu beleuchten. »Keine andere Berufsgruppe brachte dem Naziregime eine so starke Unterstützung, die Verbände gelobten bereitwillig Treue«, betonte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in ihrer Ansprache im Centrum Judaicum anläßlich einer Gedenkveranstaltung am 5. November. Unter dem Motto »Gegen Vergessen, Verdrängen, Verharmlosen und Verschweigen« wurde dabei der während des Nationalsozialismus vertriebenen und ermordeten jüdischen Ärzte gedacht. Zum Programm dieser von Bundesverband Jüdischer Ärzte und Psychologen und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin mitgetragenen Veranstaltung am vergangenen Sonntag gehörten auch Führungen auf den Spuren Jüdi-
scher Kassenärzte in Berlin-Mitte.
Felix Opfer, Sanitätsrat und Doktor der Medizin, geboren 1865 in Berlin, praktizierte 33 Jahre lang in der Berliner Friedrichstraße, zunächst als Allgemeinarzt, später als Facharzt für Urologie. Er bewohnte mit seiner Frau Doris und zwei Kindern, Erwin und Margot, eine sehr ge-
räumige 10-Zimmer-Wohnung, in der auch die Praxis untergebracht war.
1938 wird allen jüdischen Ärzten mit der »4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz« die Approbation entzogen. Darin heißt es: »Bestallungen jüdischer Ärzte erlöschen am 30.9.1938«. Für Felix Opfer wie für seine Kollegen bedeutet dies, daß er sich nicht mehr Arzt nennen darf, allenfalls »Krankenbehandler«, und in eine viel kleinere Wohnung umziehen muß, in der er nur noch jüdische Patienten behandeln darf.
Seine Enkelin Eva Tucker lebt heute in London und besuchte Berlin anläßlich der Gedenkveranstaltung. In diesem Rahmen erzählte die heute 77Jährige aus ihren immer noch sehr lebhaften Erinnerungen an die Zeit bei ihren Großeltern in der Friedrichstraße. Erwin, der wie sein Vater Felix Medizin studiert hatte, verstarb 1931 an Kinderlähmung. Margot war von ihrem Mann geschieden und wohnte mit Tochter Eva wieder bei ihren Eltern, die sich liebevoll um die Enkelin kümmerten. An die große Wohnung in der Friedrichstraße kann sich Eva Tucker bis heute deutlich erinnern.
Den Verlust der Approbation konnte der geliebte Opa nicht fassen, berichtet die Enkelin: »Er ging hin und her, hin und her, vom Eßzimmer durch die Schiebetür in den Salon, schritt auf und ab. Wieso? Wozu? Warum?« Die kleine Wohnung in Schöneberg, die den Großeltern Ende 1938 zugewiesen wurde, ist in ihrer Erinnerung hingegen verblaßt –, vielleicht weil sie mit einer Zeit wachsender Angst verbunden ist, in der Ausdrücke wie Konzentrationslager, Antisemitismus und Auswanderungsgenehmigung alltäglich wurden, »Worte, die eigentlich nicht in den Wortschatz einer Neunjährigen gehören«.
Glücklicherweise konnte Margot eine solche Auswanderungsgenehmigung erhalten und mit ihrer Tochter Ende Februar 1939 nach England emigrieren. Die Großeltern blieben in Berlin und hofften noch, indem sie sich mit wenig begnügten, die nach den Worten der Omi »außergewöhnlichen Zeiten« überstehen zu können.
Noch 1942 schrieb Doris Opfer an die Tochter in England: »Dienstag erhielten wir die Nachricht, daß wir fort müssen... Wir hoffen, daß mein geliebter Mann auch draußen wird praktizieren können.« Tatsächlich hatten die Nazis den älteren Juden vorgegaukelt, sie in ein Altersheim zu bringen, wo sie in Ruhe ihren Lebensabend würden verbringen können. Ihr letztes Geld wurde ihnen noch unter der Begründung, sich damit die Pflege zu finanzieren, aus der Tasche gezogen. Der Name des Ortes klang auch so lieblich: Theresienstadt. Als die alten Menschen nach einem zweieinhalb Kilometer langen Fußmarsch die engen und dreckigen Kasematten und Dachböden von Theresienstadt erreichten, brachen viele physisch und psychisch zusammen. Viele starben bereits nach wenigen Tagen. Felix Opfer starb im Oktober 1943. Seine Frau Doris wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, und kam dort ums Leben.
Über andere Schicksale jüdischer Ärzte bleibt noch viel zu erforschen und die Arbeit von Historikerin Rebecca Schwoch soll noch ein Jahr in Anspruch nehmen: »Ich begrüße, daß Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung sich ihrer Verantwortung stellen,« sagte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in ihrer Ansprache am vergangenen Sonntag, »aber es ist beschämend, daß dies erst im 21. Jahrhundert passiert.«