Bald fängt unser neues Leben an. Genau an Rosch Haschana, dem 19. September, wandern wir nach Deutschland aus. Wir haben vier Koffer gepackt, nur Winterkleidung, denn das Gepäck im Bus wird nach Gewicht berechnet. Dreißig Stunden dauert die Fahrt von Nowograd-Wolynsij nach Karlsruhe. Unsere Eltern und Großeltern werden uns zum Bus begleiten. Sie werden weinen und uns lange umarmen. Mich, meine Frau Lora und unseren kleinen Sohn Ilja. Er wird Ende des Jahres fünf.
Unsere Verwandten sind etwas besorgt: »Wie wollt ihr dort leben?«, fragen sie. Aber unser Entschluss steht fest – schon seit 2003, als wir den Ausreiseantrag bei der Deutschen Botschaft gestellt haben. Lora ist überzeugt: Alles wird gut! Bisher lebten wir im Nordwesten der Ukraine, zwei Autostunden von Kiew entfernt. Unsere Stadt hat etwa 50.000 Einwohner.
gewissheit Der Abschied fällt uns leicht. Wir lassen nicht viele Freunde in der Ukraine zurück – die meisten sind schon ausgewandert. Mein bester Freund lebt in Dänemark, ein anderer in Deutschland. Wahrscheinlich werden wir sie in Zukunft sogar öfter sehen können, wenn wir erst unsere deutschen Pässe haben und ohne Visum fast überallhin reisen können.
Vor ein paar Tagen haben wir in der Deutschen Botschaft in Kiew unsere Visa abgeholt. Damit steht unserer Ausreise nach Deutschland nichts mehr im Wege. Das ist für uns eine große Erleichterung. Sechs Jahre der Unsicherheit sind vorbei. Endlich haben wir Gewissheit: Wir werden in Deutschland leben. Unser Sohn wird dort aufwachsen und zur Schule gehen. Er soll eine gute Ausbildung bekommen. Am liebsten wäre mir, wenn er einmal Polizist würde. Ich weiß, das klingt vielleicht lustig. Aber das ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Und eine sichere noch dazu. Denn Polizisten braucht man immer, wie Bäcker.
Ich selbst bin Arzthelfer. Die letzten vier Jahre bin ich auf einem Ambulanzwagen als Sanitäter mitgefahren. Immer in Zwölf-Stunden-Schichten. Achthundert Griwna habe ich im Monat verdient, das sind umgerechnet nicht mal 80 Euro. Meine Frau ist Krankenschwester, ihr Gehalt ist genauso niedrig wie meins. Wir sind nur über die Runden gekommen, weil unsere Eltern uns unterstützt haben und wir unser eigenes Obst und Gemüse von der Datscha gegessen haben.
biogemüse Vor sieben Jahren habe ich Lora bei der Ausbildung kennengelernt und mich auf der Stelle in sie verliebt. Ein Jahr später haben wir geheiratet, noch ein Jahr später kam unser Sohn zur Welt. Bis jetzt bewohnten wir zu dritt ein Zimmer im Haus meiner Mutter. Die erste Zeit in Deutschland werden wir in einem Wohnheim leben und finanzielle Unterstützung bekommen. Aber wir wollen niemandem zur Last fallen. Sozialhilfe – das gefällt mir nicht. Ich bin jetzt 28. Ich habe mein Leben noch vor mir. Wir wollen möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen. Meine Frau würde gern wie in der Ukraine in einem Blutspende-Zentrum arbeiten. Und ich natürlich im Rettungsdienst. Wir haben gehört, dass man im medizinischen Bereich Leute sucht.
Wir können schon ein bisschen Deutsch, aber natürlich noch nicht genug. Wir kommen aus einer Kleinstadt. Leider waren Sprachkurse dort für uns unerschwinglich. Aber wir haben uns Bücher besorgt und über Satellit RTL II geschaut. Jetzt wissen wir alles über deutsche Tierärzte.
Deutschland ist ein ordentliches und stabiles Land, ganz anders als die Ukraine. Es ist sehr sauber dort. Die Menschen lieben ökologisch erzeugte Lebensmittel. Das gefällt mir sehr. In der Ukraine leben die Menschen sehr ungesund, und schon junge Leute erkranken an Krebs. Im Rettungswagen habe ich viel Elend gesehen. Ich hatte Angst um meinen Sohn. Jetzt weiß ich, er wird in einer gesunden Umgebung und in geordneten Verhältnissen aufwachsen.
Ich war zwar noch nie in Deutschland, aber mein älterer Bruder Vadim lebt schon vier Jahre in Chemnitz. Immer wenn er zu Besuch kam, brachte er uns deutsche Spezialitäten mit: Mir haben die Nürnberger Bratwürstchen am besten geschmeckt, Lora mag am liebsten den Marzipanstollen.
Meine Schwägerin ist in der jüdischen Gemeine Chemnitz aktiv – ehrenamtlich, weil kein Geld für feste Stellen da ist. Ob es in Karlsruhe jüdisches Leben gibt, wissen wir nicht. Im Internet haben wir herausgefunden, dass der Fußballclub in der ersten Bundesliga spielt. Und die Stadt soll auch eine gute Handballmannschaft haben. Wenn es dort eine jüdische Gemeinde gibt, werden wir mal hingehen. Mir gefallen die Bräuche, aber ich weiß zu wenig darüber. Zu Hause haben wir immer die jüdischen und die christlichen Feiertage gefeiert.
Als ich klein war, hat mir mein Opa oft jüdische Kinderlieder vorgesungen. Opa ist mein Vorbild. Er ist mittlerweile schon 82 und arbeitet immer noch. Zusammen mit Oma betreibt er einen Friseursalon in unserem Ort. Mein Vater ist vor 20 Jahren nach Israel abgehauen. Er war unter den Ersten, als der Eiserne Vorhang fiel, und die sowjetischen Juden ausreisen konnten.
In der Ehe meiner Eltern hatte es vorher schon gekriselt. Meine Mama, meinen Bruder und mich hat Papa einfach so zurückgelassen. Das war eine schwierige Zeit. Inzwischen habe ich ihn ein paar Mal in Israel besucht. Aber leben könnte ich dort nicht. Das heiße Klima ist anstrengend, und Lora hätte zu viel Angst. Die politische Lage ist ja leider nicht gerade ruhig im Nahen Osten. Deutschland ist ein friedlicheres Land.
geschichte Antisemitismus haben wir in der Ukraine persönlich nicht erlebt, aber es gab immer mal seltsame Situationen. Zum Beispiel, wenn Leute fragten: Steinberg – ist das eigentlich ein jüdischer Name oder ein deutscher? Da fällt mir noch ein Beispiel ein: Momentan kandidiert unser früherer Außenminister Arseniy Jatsenjuk bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Viele finden ihn gut, weil er mit seinen 35 Jahren ein Hoffnungsträger sein könnte. Aber hinter vorgehaltener Hand ist zu hören, einer wie Jatseniuk könne niemals die Mehrheit bekommen, denn er sei Jude. Der Bürgermeister von Uschgorod in der Westukraine hat neulich sogar einen seiner Wahlhelfer angegriffen und Jatseniuk öffentlich als »kleinen frechen Juden« bezeichnet. Jetzt wird gegen den Bürgermeister ermittelt, aber der ist immer noch im Amt.
Mein Bruder und seine Frau sagen, in Deutschland brauche man keine Angst vor Antisemitismus haben. Haben wir auch nicht. Ich glaube, Deutschland hat seine Lektion aus der Geschichte gelernt. Über den Holocaust wurde in unserer Familie nie viel gesprochen. Wahrscheinlich, weil mein Vater so früh aus unserem Leben verschwunden ist und viele Verwandte in der ganzen Welt verstreut leben. Nur so viel weiß ich: Opas Bruder Mischa ist in den letzten Kriegstagen 1945 kurz vor Berlin gefallen. Als jüdischer Rotarmist. Sein Grab befindet sich auf einem Soldatenfriedhof in Müncheberg. Ich habe mir fest vorgenommen, es zu finden.