von Sabine Brandes
Vor einer Woche hatte Omri Frisch einen Platz frei. Sofort rief er die Eltern an und bat sie, ihren Sohn Juval zu bringen. Der Vater antwortete: »Jetzt brauchen wir keinen Platz mehr in Kfar Izun, wir haben gerade einen auf dem Friedhof bestellt.« Juval war 22 Jahre alt, als er sich das Leben nahm.
Jedes Jahr machen sich 40.000 bis 50.000 Israelis nach dem Militärdienst auf die Reise. »Hatiul hagadol – der große Trip« hat Tradition. Seit den 60er Jahren zieht es die jungen Leute ins Ausland, zwei Drittel reisen nach Fernost, ein Drittel hält sich in Südamerika auf. Die meisten bleiben sechs bis zwölf Monate, manche kommen jahrelang nicht nach Hause. Schätzungsweise 90 Prozent von ihnen nehmen während der Reise Drogen. Und damit beginnen die Schwierigkeiten. Denn für viele wird die Tour, die als Traumreise gedacht war, zum reinsten Horror-Trip. Und auch für die israelische Gesellschaft wird dieser Brauch mehr und mehr zum Problem.
Jedes Jahr kehren um die 2.000 mit seelischen Erkrankungen nach Drogenmißbrauch zurück. Mehr als 600 werden sofort mit schweren Psychosen in geschlossene Anstalten eingewiesen, der Rest hangelt sich von einer Sitzung beim Psychologen zur nächsten, kapselt sich völlig vom normalen Leben ab und begeht im schlimmsten Fall Selbstmord. Die Zahl derer, die an langfristigen Beeinträchtigungen wie Konzentrationsschwierigkeiten und Verlust des Kurzzeitgedächtnisses leiden, wird von Fachleuten auf Zehntausende geschätzt.
»Ich bin mir sicher, daß es nicht einen Menschen in Israel gibt, der nicht irgend jemanden mit solchen Problemen kennt.« Der Mann, der das sagt, weiß, wovon er spricht. Omri Frisch ist Gründer und Leiter von Kfar Izun, dem »Harmoniedorf«. Gegründet im Jahr 2001, versucht Frisch, die jungen Leute mit einer Kombination aus ganzheitlichen Therapien wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. »Es ist eine Kombination von Körper, Bewußtsein und Natur.« 1.000 junge Menschen haben in den vergangenen Jahren die viermonatige Behandlung am idyllischen Mittelmeerstrand in der Nähe von Cesarea durchlaufen. »Und 60 Prozent von ihnen sind geheilt«, berichtet der Leiter. »Sie haben normale Karrieren, Familien, sind gesunder Teil der Gesellschaft.« Doch nicht alle schaffen es. Oft sind die Psychosen irreversibel.
Idan ist einer von ihnen. Vor zwei Wochen ist er aus Indien zurückgekehrt. Mit weit aufgerissenen Augen hetzt er durch die Sanddünen, brabbelt Unverständliches von Mossad und Gefahr vor sich her. Idan ist ein attraktiver junger Mann, der einst mit wehendem Haar auf dem Meer surfte. Es war sein liebstes Hobby. Das einzige, das jetzt noch an seinem ausgemergelten Körper weht, ist das indische Hemd, das er von der Reise mitgebracht hat.
So wie Idan erging es vielen. »Sie waren vielversprechende Mädchen und Jungs, die in Eliteeinheiten der Armee gedient haben. Mit Talenten, Hoffnungen und besten Aussichten. Und das ist, was Cannabis aus ihnen macht.« Frisch arbeitete sieben Jahre lang als Sozialarbeiter für die Anti-Drogen-Behörde. Doch der staatliche Umgang mit diesem Phänomen frustrierte ihn zunehmend, denn die einzige Therapiemöglichkeit waren geschlossene Anstalten. Eine Behandlung, die seiner Meinung nach für die meisten Fälle völlig ungeeignet ist. »Oft ist es wenig effektiv, die Patienten bleiben hilfebedürftig und werden als psychisch krank abgestempelt.« Frisch, der selbst Offizier einer Eliteeinheit war, konnte es nicht mehr mit ansehen, wie das Problem ignoriert wurde und begann zu handeln.
Gemeinsam mit einem Team von 25 Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Homöopathen, Kunsttherapeuten und anderen gründete der charismatische Mann Kfar Izun. »Es sind doch unsere Kinder. Alles junge Menschen, viele aus Kampfeinheiten, die wir drei Jahre lang nach Gasa und Dschenin schicken. Sie riskieren tagein, tagaus ihr Leben für uns und unser Land. Und wenn ihnen dann etwas passiert, lassen wir sie einfach hängen. Das ist nicht richtig.«
Die 25 Patienten wohnen in kleinen Häuschen mit roten Dächern, es gibt keinen Zaun, keine Alarmanlagen. Alle seien freiwillig hier, es werde ohne Druck mit ihnen zusammengearbeitet. »Sonst würde es auch nicht funktionieren.« Nur zu einem geringen Teil wird das Harmoniedorf von staatlicher Seite subventioniert. Der Großteil kommt von privaten Spendern. »Ich würde gern mehr helfen«, klagt Frisch, »doch es ist einfach kein Geld da.« Die Familien der Patienten zahlen monatlich um die 1.750 Euro für die Therapie. Für jene, die sich das nicht leisten können, versucht das Team, einen persönlichen Spender zu finden.
In den fünf Jahren Kfar Izun hat Frisch Hunderte gesehen, die sich in den verschiedensten psychotischen Stadien befanden. »Und alle, weil sie Cannabis geraucht hatten.« Die Menschen erleben alp- traumartige Szenarien. Oft setzt eine Depersonalisation ein, wobei der eigene Körper und dessen Wahrnehmungen als fremd empfunden werden. Schizophrenie, manische Depression, Wahnvorstellungen und Sperren der Motorik sind die Folgen. Bis vor einer Weile gab es eine Diskussion unter Experten, ob Cannabis Auslöser oder lediglich Katalysator von psychischen Störungen sei. Heute aber ist klar: Die bewußtseinsverändernde Droge ist Grund für die Psychosen.
Dennoch hat Cannabis einen guten Ruf in Israel. Es gibt die »Partei des grünen Blattes«, die sich für die Legalisierung einsetzt, und viele sagen offen, daß sie regelmäßig konsumieren. Manche jungen Leute sogar mit ihren Eltern zusammen. Sie meinen, daß die Droge heute nicht anders sei als das, was Mama und Papa in den Sechzigern geraucht haben. Doch sie unterliegen einem nicht selten fatalen Irrtum: Experten wissen, daß die heutigen Substan-
zen viel konzentrierter und gefährlicher sind. Cannabis wird in verschiedenen Formen verwendet: Als Marihuana, das aus den Blättern und Stielen besteht, als Haschisch, hergestellt aus dem konzentrierten Saft, oder in Indien als Charas, das eine Konzentration von bis zu 20 Prozent THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol) aufweist. THC ist verantwortlich für die psychoaktiven Effekte.
Auch in Israel wird Cannabis geraucht. Fast alles Material stammt aus dem Sinai, meist von Beduinen hergestellt und verkauft. Laboranalysen ergaben, daß oft Rattengift oder Methadon beigemischt wird, um die Konsumenten langfristig abhängig zu machen. »Es ist wie eine Pest«, sagt Margaret Tantscher, deren Sohn Michael noch ein Jahr zu dienen hat. Ein Freund der Familie, ein talentierter junger Mann, sei vor einem Jahr als psychisches Wrack aus Indien zurückgekehrt. »Jetzt tut er nichts anderes, außer auf dem Sofa liegen. Es ist wie ein Alptraum. Wenn ich an Michael denke, habe ich mehr Angst vor dem großen Trip, als ich jemals vor dem Armeedienst hatte.«