von Harald Loch
In der zeitgeschichtlichen Forschung über Faschismus und Nationalsozialismus haben sich immer Phasen von Gesamtdeutungen und solche der Bearbeitung von Einzelaspekten abgelöst. Oft schon hat man vermutet, es gebe nichts neues mehr zu diesem Thema zu sagen, prompt überraschten neue Forschungen oder neue Beurteilungen. In letzter Zeit sind etwa die Arbeiten von Götz Aly oder das großangelegte multimediale italienische Sammelwerk »Storia della Shoah«zu nennen. Während Aly neue Quellen erschloß, stellen die Turiner den Teilaspekt der Vernichtung der europäischen Juden in einen wesentlich weiter als bisher verstandenen historischen Kontext. Der New Yorker Historiker Robert O. Paxton entwickelt jetzt aus seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert eine neue Phänomenologie des Faschismus, ordnet dessen verschiedene Erscheinungsformen mit überzeugender Urteilskraft neu und wagt mit einem Blick auf die Gegenwart einen für Historiker fast unschicklichen Ausblick in die Zukunft. »Anatomie des Faschismus« ist ein groß angelegter Essay, der nicht auf enzyklopädische Zusammenfassung der unüberblickbar gewordenen Forschung zielt.
Gängige Unterscheidungen zwischen den Begriffen Nationalsozialismus und Faschismus sind Paxtons Sache nicht. Beides sind für ihn Erscheinungsformen ein und desselben hypernationalistischen, antiliberalen und gewaltsamen politischen Phänomens. Dabei beschreibt er nicht nur die italienische und deutsche Variante, sondern geht auch auf gescheiterte oder steckengebliebene faschistische Projekte ein. Mit den Mitteln der vergleichenden Geschichtsbetrachtung arbeitet er deren Gemeinsamkeiten heraus und stellt eine phasenweise Entwicklung des Faschismus fest. Der ist nach Paxton keine statische sondern eine dynamische, prozeßhafte Erscheinung. Sein Fünf-Stufen-Modell erlaubt sowohl für die Vergangenheit als auch für die zeitgeschichtliche Betrachtung der Gegenwart eine Bestimmung, in welchem Stadium eine faschistische Bewegung sich befindet.
Vehement widerspricht Paxton der gelegentlich aufgestellten These, der Faschismus sei »national-sozialistisch«, also auf wenn auch pervertierte Weise »links« gewesen. Zwar habe der Faschismus, vor allem in seiner von Taktik geprägten Anfangsphase sowie im Krieg Zugeständnisse an den Lebensstandard der Massen gemacht, um deren aktive Loyalität sicherzustellen. Die Nazis hätten aber diese Wohltaten nicht etwa den Eigentümern der Produktionsmittel weggenommen, sondern den von ihnen bekämpften inneren oder äußeren Gegnern, also den enteigneten Juden und den unterdrückten Völkern in den besetzten Ländern, um den begünstigten Volksgenossen zu beweisen, daß es sich lohnte, der »Herrenrasse« anzugehören.
Aus den einzelnen Phänomenen der einschlägigen europäischen Erfahrungen entwickelt Paxton eine eigene Begrifflichkeit für den Faschismus. Das dynamische Entwicklungsmodell erlaubt ihm, auch aktuelle rechtspopulistische Erscheinungen in Österreich, Italien, den Niederlanden und Frankreich sowie den rechtsradikalen Rand des deutschen Parteienspek- trums besser einzuordnen. Auch sein eigenes Land, die USA hält Paxton für faschismusanfällig und beruft sich dabei auf frühe Vorwarnungen: Alexis de Tocqueville war schon 1831 in seinem Klassiker »Über Amerika« irritiert über die Macht der Mehrheit in der amerikanischen Demokratie, die über sozialen Druck Konformität erzwingen konnte .
robert o. paxton: anatomie des faschismus
Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer
Deutsche Verlags Anstalt, München 2006, 448 S., 24,90 €