von Rabbiner
Julian-Chaim Soussan
Die Parascha Wajikra erhält gemeinsam mit dem 3. Buch Moses ihren Namen, wie alle Wochenabschnitte durch das erste relevante Wort im ersten Satz. »Und er rief« ist die Aufforderung des Ewigen an Mosche, in die Stiftshütte zu kommen.
Aber so willkürlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sind die jüdischen Namen keineswegs. »Bereschit« – zu Deutsch »am Anfang« – beschreibt tatsächlich die Anfänge: den Anfang der Welt, der Menschheit und des jüdischen Volkes. »Schemot« – zu Deutsch »Namen« – beginnt mit dem Versuch des pharaonischen Tyrannen, Identität zu zerstören und die Sklaven zu inhaltlosen Unpersonen zu machen. Durch die Befreiung und den Erhalt der Tora erlangt Israel seine Bedeutung, seine Identität, eben seinen Namen. Das 4. Buch Moses, »Bamidbar« – deutsch: »in der Wüste« –, beschreibt den Weg, den Prozess, den das Volk durchläuft, um ins Land Israel zu gelangen. Und schließlich »Dewarim«, deutsch: »die Worte«, welche Mosche als Abschied zum Volk spricht, das 5. Buch Moses, in dem er zentrale Themen und Konzepte der Tora kurz vor seinem Tode an die nächste Generation, die sich bereit macht, ins Land einzuziehen, wiederholt und vertieft.
Worin besteht also der tiefere Sinn von »Wajikra«, dem Ruf des Ewigen? Auf einer ersten Ebene fällt auf, dass man jemanden erst rufen kann, wenn man seinen Namen kennt, es ist also folgerichtig, das Buch Schemot vor das Buch Wajikra zu stellen. Es wird damit auf die Wichtigkeit hingewiesen, jüdische Namen zu besitzen.
Eine der schönsten Zeremonien, die ich als Rabbiner in den vergangenen Jahren durchgeführt habe, sind Namensgebungen für erwachsene jüdische Zuwanderer, die bis zu jenem Zeitpunkt keinen jüdischen Namen hatten. Durch das öffentliche Segnen in der Synagoge mit dem neu hinzugewonnenen Namen haben diese jungen Frauen (die Männer erhalten ihren Namen bei der Beschneidung) ihre jüdische Identität benannt. Erst mit dem jüdischen Namen, mit der Bereitschaft, sich jüdisch zu identifizieren ist es wirklich möglich, den Ruf des Ewigen zu hören.
Auf einer zweiten Ebene wird deutlich, dass das zentrale Buch der Tora uns auffordert, auch unser Tun auf den Willen des Ewigen auszurichten. Er ruft uns, Er bleibt auch nach der einmaligen Offenbarung am Berg Sinai im Kontakt mit uns, indem wir Ihm dienen. Das kann im Gebet in der Synagoge ebenso geschehen wie bei der Arbeit oder am Stammtisch. Immer, wenn wir den Ewigen präsent werden lassen in unseren Handlungen, in unserem Tun und Reden, dienen wir Ihm.
Jüdische Religion beschränkt sich nicht auf »rituelle« Handlungen, es ist eine Lebenseinstellung. Wie ich mich zu anderen Menschen verhalte, ist von der Tora und damit vom Ewigen vorgegeben und dadurch, wenn richtig gelebt, G’ttesdienst. Nicht umsonst befindet sich das Gebot der Nächstenliebe, der Ruf nach gottgewolltem Handeln auch im Buch »Wajikra«.
Aber es gibt noch eine Ebene. An diesem Schabbat lesen wir zusätzlich, so wie jedes Jahr am Schabbat vor Purim, den Abschnitt »Sachor« – »Erinnere« dich, was Amalek dir antat. Der Bösewicht der Purimgeschichte ist Haman, der aus dem Volke Amalek stammte. Amalek hat uns angegriffen, als wir eben erst der Sklaverei entkommen waren. Daher gilt Amalek und damit Haman als der Prototyp des Antisemiten.
Eine Besonderheit der Megillat Esther ist die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse: Zufällig heiratet der König Esther, zufällig ist sie jüdisch, zufällig ist sie die Cousine von Mordechai, Haman wirft Lose, die zufällig auf den 13. Adar fallen, zufällig rettet Mordechai den König vor einem Attentat, und zufällig erfährt dieser erst in der Nacht von Esthers jüdischem »Coming out«, wie man heute sagen würde.
An Zufall zu glauben bedeutet, dass die Welt keinem Plan unterliegt. Alles, was passiert, hat eine bestimmte Wahrscheinlichkeit. Wenn wir die Megilla lesen, ist uns klar: Es gibt einen g’ttlichen Plan, nur ist er nicht immer offenkundig. Der hebräische Begriff für Zufall ist »Mikreh«. In der Paraschat Sachor (5. Buch Moses 25,18) »Ascher karcha baderech« – Erinnere dich daran, was Amalek dir getan (…), »welches dir ›zugestoßen‹ auf dem Weg«. Das Prinzip von Amalek ist Zufall. Das jüdische Prinzip ist G’ttes Plan. Haman benutzt Lose, um den Untergang des jüdischen Volkes zu beschließen.
Dem setzen wir unser Verständnis von »Mikreh« entgegen. Wir sind Teil einer g’ttlichen Absicht. »Mikreh« und »Wajikra« sind etymologisch miteinander verwandt. Wenn wir G’tt als Ursache voraussetzen, können uns Zufälle nichts anhaben. Amalek und damit Antisemitismus wird letztlich durch die Ausübung dessen, was der Ewige uns zuruft, besiegt. »Wajikra« ist die Antwort auf Atheismus. Weder Sternzeichen, Horoskope noch Zufälligkeiten können uns fremdbestimmen. »Ejn masalot lejisrael« sagt daher der Talmud, und das bedeutet so viel wie: Es gibt keine Vorherbestimmung für Israel außer die von Haschem gewollte. Mögen wir alle beitragen, die verschiedenen Bedeutungen von Wajikra umzusetzen: Unsere jüdische Identität zu finden, den Willen des Ewigen ins Zentrum unseres Handelns zu setzen und uns damit der Vorhersehung Haschems anteilig werden zu lassen, damit der Hass endgültig besiegt werden kann.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.