von Gernot Wolfram
Die ersten schlechten Zähne, die Anatol Gotfryd in seinem Leben zu sehen bekam, waren die seines Mohels. Im Oktober 1930, so will sich Gotfryd zumindest erinnern, grinste ihm der örtliche Gemeindebeschneider in der Synagoge seines Geburtsortes, dem galizischen Städtchen Jablonow, »mit einem lückenhaften Gebiß« freudig entgegen. Behandlungsbedürftige Zähne sollten in Gotfryds Leben eine bestimmende Rolle spielen. Er wurde nach seiner langjährigen Flucht vor den Nazis im besetzten Polen legendärer »Künstlerzahnarzt« in Berlin.
Seit er Anfang der sechziger Jahre seine Praxis am Lehniner Platz eröffnet hatte, strömten die Maler, Dichter, Schauspieler und Nachtclub-Besitzer in seine Praxis. Er galt als ausgezeichneter Arzt und als Spezialist für schmerzfrei gesetzte Spritzen. Zu einer Zeit, da ein Zahnarztbesuch noch die Vision wirklicher Torturen wachrief, muß dieses Talent zweifellos eine besondere Anziehungskraft ausgeübt haben. Eines Tages stand sogar der Dramatiker Samuel Beckett, den man auf Fotos nur äußerst selten mit geöffnetem Mund sieht, bei ihm vor der Tür und verlangte, behandelt zu werden. Bald gehörten auch Theatergrößen wie George Tabori, Rainer Werner Fassbinder, Harald Juhnke oder der Boxer Bubi Scholz zu seinen Stammpatienten. Für Bubi Scholz, erinnert sich Gotfryd, fertigte er »kurz vor seinen großen Kämpfen schützende Zahnschienen aus Kautschuk an«. Zudem konnte man in seiner Praxis in einem separaten Raum Kunstkataloge und Buchneuerscheinungen lesen. Es gab für Gäste stets einen frisch gebrühten Kaffee und mancher Maler verlegte seinen Arbeitsplatz gleich in Gotfryds Praxis, um dort zu zeichnen. In seinem Gästebuch lassen sich vierzig Jahre Berliner Kulturgeschichte nachlesen. Eindrücklich auch der »Eintrag« von Bubi Scholz – eine kräftig mit den Zähnen durchbissene Seite.
Anatol Gotfryd wurde zu einem Liebling der Berliner Prominenz. Er engagierte sich im Kuratorium der Freunde der Nationalgalerie, war einer der Mitbegründer der Graphischen Gesellschaft zu Berlin und beliebter Partygast. Einmal brachte er es sogar zu einem kurzen Auftritt in einem Striptease-Lokal Rolf Edens, als dieser ihn nachts aus dem Publikum auf die Bühne holte und den Gästen als »besten Zahnarzt von ganz Europa« vorstellte.
Gotfryd hat im Alter von über siebzig Jahren seine Biographie aufgeschrieben und unter dem Titel Der Himmel in den Pfützen – Ein Leben zwischen Galizien und dem Kürfürstendamm veröffentlicht. Sein Verleger ist, wie könnte es anders sein, zugleich ein langjähriger Patient. »Ich war als Junge von zehn Jahren bei ihm in der Praxis«, erzählt Wolf Jobst Siedler jr. »Ich kannte ihn durch meine Eltern. Als ich meinen eigenen Kleinverlag gründete, hörte ich, daß er an seinen Erinnerungen schreibt und bat ihn, mir das Manuskript zu schicken. Ich war sofort begeistert.«
In der Tat erstaunt, mit welcher Poesie, welchem Witz und welcher Eindringlichkeit Gotfryd erzählt. Es ist keines der gewohnten Erinnerungsbücher eines Überlebenden des Dritten Reiches. Hier berich-
tet einer von zwei deutschen Welten, die unterschiedlicher nicht sein können. Das erste Leben im fanatischen Nazi-Terror, das zweite im verspielt abgehobenen Oberschichten-Milieu Westberlins in den siebziger und achtziger Jahren. Nur wenige seiner Patienten wußten damals, daß die Bio-
graphie dieses stets gutgelaunten Mannes die eines Verfolgten der Nazis war. Gotfryd schrieb später: »Die Tatsache, verfolgt worden zu sein, hat etwas Entwürdigendes und Intimes, so daß man nur ungern davon redet.« Sich selbst verschwiegen hat er seine Erinnerungen nie.
Seine Kindheit in Galizien endete mit dem Einmarsch der Nazis in Polen. Gotfryd erlebte mit zwölf Jahren das Morden und Wüten der SS sowie der ukrainischen Hilfspolizisten aus unmittelbarer Nähe. Er geriet in einen Transport zum Vernichtungslager Belzec. Durch glückliche Umstände gelang es ihm, aus dem fahrenden Zug zu springen und sich nach Lemberg durchzuschlagen. Von da an begann eine Odyssee, die ihn die Kriegsjahre hindurch von Versteck zu Versteck trieb. Er verfolgte den Warschauer Aufstand 1944 aus nächster Nähe und erlebte auch das Kriegsende in Polen. In der Nachkriegszeit begann er in Breslau Zahnmedizin zu studieren. Er lebte in einem jüdischen Internat, das mehrfach von Schließung bedroht war, weil die Gelder für die Versorgung des Hauses aus Amerika kamen. Überhaupt machte sich der latente Antisemitismus kommunistischer Spielart in Polen ständig bemerkbar. An der Breslauer Universität wurde Gotfryd dazu aufgefordert, in die Partei einzutreten und sein Bekenntnis zum Kommunismus eindeutig zu formulieren. Rückblickend sieht Gotfryd diese Zeit jedoch ohne jeden ideologischen Fingerzeig. »Viel später habe ich begriffen, daß der Sozialismus die Menschen zu politischen und der Kapitalismus sie zu existentiellen Opportunisten macht.« In dieser Zeit lernt er auch seine Frau Danka kennen, ebenfalls eine Studentin der Zahnmedizin. Sie beschließen nach Beendigung des Studiums nach Kanada zu gehen, um sich dort eine neue Zukunft aufzubauen. Schließlich wird es doch die Stadt Berlin, in die es die beiden verschlägt und in der sie hängenbleiben, zunächst ohne rechten Glauben, mit der Kultur des Landes nje warm werden zu können. Anfangs arbeitet Gotfryd im US-Hospital, dann wechselt er zur Zahn- und Kieferklinik der Freien Universität. Überall entdecken seine Kollegen das außerordentliche Talent des jungen Zahnarztes. Er wird gefördert und er läßt sich fördern, bis ihn ein amerikanischer Colonel darauf aufmerksam macht, daß er mit einer privaten Praxis sehr viel mehr verdienen könne. Viele zivile Angehörige der amerikanischen Armee würden mit Sicherheit bei ihm Patienten werden.
»Am gleichen Tag, an dem die Berliner Schaubühne gegründet wurde, weihten wir im Herbst 1962 unsere Praxis ein«, erinnert sich Gotfryd. Von da an beginnt sein zweites Leben, seine Leidenschaft für Kunst, Reisen und vielleicht auch für die Gabe des Schweigens.
Als er vor kurzem im Jüdischen Museum auftrat, um aus seinem Buch vorzulesen, »saßen eine Menge seiner alten Patienten aus verschiedenen Jahrzehnten im Publikum«, lächelt sein Verleger Wolf Jobst Siedler jr. Und man konnte an der Stille merken, die nach einigen vorgelesenen Passagen aus der Zeit der Verfolgung im Raum herrschte, daß die Erinnerungen des Anatol Gotfryd niemals Plaudereien am Zahnarztstuhl gewesen waren.