Lust am Massaker
Jonathan Littells SS-Roman: Ein sprachlich und gedanklich verirrtes Stück Prosa
von Wolf Scheller
Der französische Literaturkritiker Paul Nizan hat zum Unterschied zwischen Sartre und Céline einmal gesagt, wo Sartre »Azur« schreibe, sei bei Céline von »Scheiße« die Rede. Dieses häufig zitierte Bonmot geht einem durch den Kopf, wenn man Jonathan Littells mons-trösen Roman Die Wohlgesinnten liest. Wobei Célines Sprachvermögen und berserkerhafte Gestaltungskraft allerdings Lichtjahre entfernt sind von der Erzählarmut Littells. Um es gleich vorweg zu sagen: Bei diesem Romanerstling eines jüdischen Schriftstellers über das Leben eines fiktiven SS-Offiziers haben wir es mit einem missratenen Stück Prosa zu tun, dessen sprachliche und gedankliche Verirrungen in keiner Weise dem hohen Anspruch des Autors folgen, der, wie er sagt, zeigen will, dass es Zeiten gab, »in denen eine Allianz mit den Nazis eine ethische Option war«.
Gleichwohl haben die fiktiven Memoiren des SS-Obersturmbannführers Maximilian Aue heftige Kontroversen ausgelöst, weltweit Aufsehen erregt und ihrem aus Amerika stammenden Autor, der inzwischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, den Prix Goncourt eingebracht. Gut verkauft hat sich das Buch natürlich auch.
Mit Les Bienveillantes, wie der Wälzer im Original heißt, habe er den Tätern eine Stimme geben wollen; es sei ihm darum gegangen, den Holocaust aus der Täterperspektive darzustellen, so Jonathan Littell. Claude Lanzmann hat dem Autor mit dem fabulösen Urteil sekundiert, er habe die Sprache der Henker erfunden. Doch die Sprache der Henker ist uns nicht unvertraut. Die eindringlichste Erfahrung mit ihr konnte die Öffentlichkeit beim Eichmann-Prozess 1962 machen, die Hannah Arendt zu ihrer berühmten Formel von der »Banalität des Bösen« veranlasste.
Das Buch präsentiert sich als Lebensbericht eines SS-Führers, der von der Ukraine über Stalingrad, Auschwitz und Paris bis zum Führerbunker etlichen realen Personen des Regimes und Protagonisten des deutschen Judenmords begegnet. Littells Held ist nicht nur ein Massenmörder, sondern auch ein feinsinniger Intellektueller. Tatsächlich waren im Reichssicherheitshauptamt, der Schaltzentrale des Naziterrors, zwei Drittel der SS-Leute Akademiker, die meisten davon promoviert. Aue ist also keine Ausnahmeerscheinung. Ebenso wenig ungewöhnlich ist, dass ihm, wie der Elite der SS-Hierarchie generell, jede Empathie fehlt. Erst dieser Mangel versetzt ihn überhaupt in die Lage, sein mörderisches Handwerk wie einen ganz normalen Arbeitsvorgang zu exekutieren.
Max Aue ist aber nicht nur ein SS-Mann im Räderwerk der Vernichtungsmaschinerie, er ist auch als Privatperson so, wie sich der kleine Moritz die Finsterlinge aus Himmlers »Orden unter dem Totenkopf« vorstellt – psychisch gestört, homosexuell, masochistisch. Littell führt seinen Helden als tragische Figur vor, als modernen Orest. Mit seiner Schwester Una pflegt er in jungen Jahren den Inzest. Er bringt die böse Mutter und den körperbehinderten Stiefvater um, schreckt sogar vor Mord an seinem engsten Freund nicht zurück.
Jonathan Littell hat sich da ganz offensichtlich bei Melville, Genet, de Sade und George Bataille umgetan. Das gibt seiner Erzählfigur zwar den Hauch des Fantastischen, wirkt aber auch reichlich dick aufgetragen. Überhaupt hat sich der Autor bei einer Vielzahl von berühmten Kollegen bedient, aus deren Reservoir er zahlreiche literarische und philosophische Querverweise bezieht. Am stärksten natürlich bei dem antiken Dichter Aischylos, dessen »Orestie« ihm die grundlegende Struktur für sein SS-Buch liefert. Das wird schon im Titel kenntlich: Die Wohlgesinnten, das sind die Eumeniden, die
griechischen Rachegöttinnen, die den dritten Teil der Orestie anführen. In Aues Fall sind die Eumeniden zwei schlichte Kripobeamte, die sich nach 1945 an seine Fersen geheftet haben und sich nicht abschütteln lassen.
Doch belässt es Jonathan Littell nicht beim Rekurs auf antike Mythologien. Er greift auch auf die historisch verbürgte Realität zurück, wenn er die Massaker von Lemberg, Kiew, Babi Jar und die Verbrechen der deutschen Einsatzgruppen hinter der Front schildert. Dabei führt er allerdings immer wieder fatale Vergleiche mit anderen, ähnlich konstruierten Systemen und ihren Bluttaten – Bosnien, Tschetschenien, Ruanda.
Die Quintessenz des Buchs lautet: Nichts ist im Grunde unbeschreiblich oder gar unbegreiflich. Das aber ist wirklich nicht neu. Die Vielzahl der realen wie fiktiven Vorkommnisse, die Littell in seinen Text eingebaut hat, zeugt zwar von enormem Fleiß und einer ungebremsten Lust am Dokumentieren. Doch leider gelingt es dem Autor nicht, literarisch etwas von den in jedem Sinn ungeheuren Energien nachvibrieren zu lassen, die die deutschen Kriegsverbrecher und Massenmörder angetrieben haben. So rauscht Littells Erzählung mit ihren fast 1.400 Seiten über uns hinweg wie ein gigantischer Wasserfall, ein gefühls- und lebensloser Wortschwall.
jonathan littell:
die wohlgesinnten
Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin Verlag, Berlin 2008, 1388 S., 36 €
Ende der EuphorieIn Frankreich sieht man »Les Bienveillantes« inzwischen sehr viel nüchternervon katharina Born
Die fiktive Lebenserzählung des reuelosen SS-Offiziers Max Aue, die Jonathan Littell im Sommer 2006 vorlegte, sorgte damals in Frankreich für große Aufregung. Dass ein Amerikaner auf Französisch schrieb, schien genauso spektakulär wie die Tatsache, dass ein junger Jude aus der Sicht eines Naziverbrechers erzählte. Von den einen als literarisches Meisterwerk der Holocaustliteratur bejubelt, von den anderen des Voyeurismus und der Geschichtsklitterung bezichtigt, löste Les Bienveillantes Diskussionen zur Erinnerungskultur aus, warf Fragegen zum Literaturbetrieb auf und brach vor allem sämtliche Absatzrekorde: Bis heute hat sich das Buch in Frankreich um die 800.000 Mal verkauft. Der Autor erhielt für sein literarisches Debüt den Prix Goncourt, Frankreichs renommiertesten Lietraturpreis. Der Buchenwald-Überlebende Jorge Semprun und verhaltener auch Shoah-Regisseur Claude Lanzmann lobten die literarische Annäherung des jungen Autors an die historische und menschliche Tragödie wegen ihres erhofften belebenden Effekts auf das allgemeine Schoagedenken. Der Erinnerungshistoriker Pierre Nora äußerte Respekt vor der, wie er meinte, gekonnten Einordnung des Holocausts in die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, die zu oft separat betrachtet worden seien .
In Deutschland hofft man mit der Übersetzung Die Wohlgesinnten nun auf erneute Superlative. Der Berlin Verlag, der 450.000 Euro für die Rechte gezahlt haben soll, brachte das Buch vorigen Freitag in einer Startauflage von 120.000 Exemplaren auf den Markt. Schon Wochen vor dem Erscheinungstermin war Littells Roman Spitzenthema in den Feuilletons, allen voran dem der Frankfurter Allgemeinen. Sie brachte nicht nur einen Vorabdruck, sondern organisierte dazu auch ein Internetforum und Expertengespräche.
In Frankreich ist derweil die anfängliche Euphorie allerdings einer gewissen Ernüchterung, um nicht zu sagen, leichten Katerstimmung gewichen. Von einer Trendwende im Umgang mit der Vergangenheit dank Les Bienveillantes kann man kaum sprechen. Gewiss, die Flut von Büchern jeder Form über den Nationalsozialismus nimmt auch in Frankreich noch immer zu, erst recht natürlich nach dem Erfolg von Littells Roman. Nachdem jahrzehntelang erst die Résistance-Legenden und dann vor allem die Opfer im Zentrum des Erinnerns standen, kommen nun vermehrt auch Studien und Materialien zu den Tätern auf den Markt. Doch ist Littells Roman weniger der Auslöser, sondern vielmehr das Symptom einer weltweiten historiografischen Wende, die vor allem auf die Öffnung verschiedenster Archive, die produktive Forschung und auf den schlichten Generationenwechsel bei Lesern und Autoren zurückzuführen ist.
Auch die literarischen Meriten des Buchs werden jetzt kritischer beurteilt. Trotz aller Bewunderung für Georges Bataille, den Marquis de Sade und Jean Genet ist Littell eher amerikanischer Erzähltradition verbunden. Bei sorgfältiger Lektüre erweist sich das Buch auch nicht gerade als das Meisterwerk der Holocaustliteratur, als das es in Frankreich gehypet wurde und in Deutschland aktuell wird. Die Konstruktion der Erzählung knirscht hörbar und noch über die donnernden Schlachten hinweg. Das ebenso wenig glaubhafte wie inzwischen längst klischeehafte Bild des hochintelligenten und grundverstört homosexuellen Nazis, der die Gräuel vor allem körperlich verarbeitet, macht einen großen Teil der Irritation aus. Anachronismen und schlichte Romantisierungen des Nazi-Milieus wirken gerade auf Leser, die sich tatsächlich für das historische Thema interessieren, schnell unangenehm.
Immerhin: Die Geschichte des brillanten Nazis Dr. Aue, dieses modernen Orest, der, die »wohlgesinnten« Rachegöttinnen schon auf seiner Spur, überall zugleich und vor allem im Auge des Holocaust-Taifuns herumreist, ist hochprofessionell und unterhaltsam geschrieben. So bleibt das Gefühl, dem reuelosen Erzähler und der zeitgenössischen Faszination der Nazi-Maschinerie mit ihren Spannungseffekten auf den Leim gegangen zu sein.