von Wladimir Struminski
Das, was man für gewöhnlich unter bester Wohnlage versteht, ist die Tel Aviver Jessod-Hamaala-Straße nicht. Die Häuser sind klein, vom Zahn der Zeit angenagt und sehen wie ein vergessenes Provisorium aus. Das Auffälligste, das Anwohner vor ihrer Haustür entfernt sehen, ist der monströse Zentrale Busbahnhof. Menschen eilen hinein und heraus. Schwarzafrikanische, asiatische und osteuropäische Arbeitsmigranten tummeln sich in den Seitenstraßen; der an seinem Roller lehnende Polizist bemüht sich nicht einmal, die Illegalen unter ihnen zu suchen. Einige ältere Herren in zerschlissener Kleidung schlendern über die Straße.
Hier, in der Gegend, die kaum jemand freiwillig zu seinem Zuhause machen würde, befindet sich eine einmalige Institution: Israels säkulare Jeschiwa. Einen Moment lang mag man stutzen: Ist eine Jeschiwa nicht die religiöseste aller jüdischen Einrichtungen? Die durch jahrtausendelange Tradition geheiligte Akademie, deren Studenten in unerschütterlichem Glauben Gottes Gesetze studieren, um dem Schöpfer des Universums besser dienen zu können? Kurzum: Ist eine säkulare Jeschiwa kein Oxymoron? »Keineswegs«, sagt Eran Baruch, Direktor von Bina, der Trägerorganisation der Jeschiwa. Bina (www.bina.org.il) wurde nach dem Mordanschlag auf Ministerpräsident Jitzchak Rabin gegründet. Zu ihren Zielen gehört es, pluralistisch denkende, weltliche Gelehrte – natürlich beiderlei Geschlechts – auszubilden, die traditionelles jüdisches Wissen aus einer humanistischen Perspektive er-
lernen. Dabei, so Baruch, »sollen die Studenten das Talmudstudium zu einem Teil ihres Lebens machen.« Nur eben ohne strenggläubigen Lebensstil. Nach diesem Prinzip richtet sich die Jeschiwa. »Wenn ich mit meinen Studenten über den Schabbat spreche«, erläutert Jeschiwa-Leiterin Tal Schaked, »dann betone ich den Schabbat als ein Symbol für bestimmte Werte, predige aber nicht, welche Tätigkeiten ihnen am Schabbat verboten sind.« Schaked selbst ist ein geradezu archetypisches Beispiel für den neuen Gelehrtentyp. Die heute 34-Jährige hat eine Zeit lang bei der israelischen Staatsanwaltschaft gearbeitet. Dann aber hängte die in einem säkularen Haus groß gewordene Juristin und Betriebswirtin die Anwaltsrobe an den Nagel – wie ihre Jeans und Sportschuhe belegen, auch im Wortsinne – und wandte sich jüdischem Lernen zu.
In ihrem Streben nach Jüdischkeit greifen die Jeschiwastudenten und -studentinnen auf traditionelle ebenso wie auf wissenschaftliche Texte zurück. Im Regal ste-
hen von dem nationalreligiösen Rabbiner-Kook-Institut herausgegebene Talmudkommentare in trauter Gemeinsamkeit mit der »Welt des Tanach«, einem von der Hebräischen Universität in Jerusalem veröffentlichten Lexikon biblischer Begriffe. Irit Ben-Porat weiß den weltoffenen Ansatz zu schätzen. »Mir eröffnete die Jeschiwa ganz neue Perspektiven«. Von der Weisheit alter Quellen war die Studentin ebenso angetan wie überrascht. »Ich finde den Talmud«, so die junge Frau »auch heute relevant.«
Allerdings bietet und fordert die Jeschiwa mehr als reine Lehre. Soziales Engagement ist für alle Studenten Pflicht. In dem Stadtviertel Newe Schaanan, zu dem die Jessod-Hamaala-Straße gehört, nehmen die Talmud-Schüler an Projekten zugunsten sozial schwacher Mitbürger teil. Ge-
nau aus diesem Grund wurde auch der Standort der Jeschiwa inmitten einer Ar-
mengegend gewählt. Für Freizeitgestaltung bleibt den Lernenden nur wenig Spielraum: Zu den drei Wochentagen, an denen sie jeweils fünfzehn Stunden lang studieren, kommen zwei Tage Sozialarbeit hinzu.
Insgesamt sind rund 120 junge Männer und Frauen an der Jeschiwa eingeschrieben. Die größte Belastung nehmen Teilnehmer des sogenannten kombinierten Programms auf sich. Sie verbinden ein zwei-
jähriges Studium mit dem regulären Wehrdienst: zwei Jahre für Frauen und drei Jahre für Männer. Dabei wechseln Studien- und Militärzeiten einander ab. Die Jeschiwa steht auch ausländischen Teilnehmern offen. Vor allem junge amerikanische Juden absolvieren in Tel Aviv das Einjahresprogramm Tikkun Olam, zu Deutsch: Verbesserung der Welt. Rund 80 Prozent der israelischen Studenten kommen aus aschkenasischen Familien. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die meisten säkularen Juden europäischer Herkunft sind. Der Großteil kommt aus gut situierten Häusern, und auch das ist kein Wunder: Weil die in der Diaspora und in Israel aufgebrachten Spenden nicht für angemessene Stipendien reichen, sind die Studenten auf elterliche Hilfe angewiesen. Die Zuteilung staatlicher Fördermittel, wie sie andere Talmudakademien bekommen, ist bisher am Widerstand orthodoxer Jeschiwot gescheitert, deren Dachverband den weltlichen Kollegen die Förderwürdigkeit nicht bescheinigen wollte. Ohne diese Empfehlung aber will Vater Staat nicht in die Tasche greifen. Dennoch gibt sich Bina-Direktor Baruch zuversichtlich. »Mit einem Studienpensum von 45 Wochenstunden genügen wir der amtlichen Definition einer förderberechtigten Jeschiwa«, erklärt er. Deshalb geht er davon aus, dass die Regierung ihre Position überdenkt. »Notfalls«, warnt der Erzieher, »ziehen wir vors Oberste Gericht.«