von Karen Naundorf
Matilde hatte geahnt, daß sie Graciela irgendwann abholen würden. Ihre Tochter arbeitete in einem Armenviertel. Das allein reichte in der Militärdiktatur, um als subversiv zu gelten. Als sie 1975 das letzte Mal zusammen Silvester feierten, standen sie auf dem Balkon und umarmten sich so fest, »daß ich noch heute die Wärme von Gracielas Gesicht an meinem Hals spüre«, sagt Matilde und streicht sich die grauen Haare aus der Stirn. Sie war damals 50, Graciela 29 Jahre alt, Diplomvolkswirtin. Neun Monate später, am 25. September 1976, wurde Graciela Saidler de Mellibovsky entführt, irgendwo in Buenos Aires, im Stadtviertel Almagro. Mehr weiß Matilde nicht. Das letzte Lebenszeichen von ihrer Tochter war ein kurzer Anruf aus der Gefangenschaft: »Mama, wir werden uns nicht wiedersehen.«
Matilde hält den Kopf leicht nach vorn gebeugt und hebt kaum die Füße, als sie vom Wohnzimmer in das Büro ihres Mannes schlurft. Sie wohnt in einer Wohnung im Stadtteil Palermo Chico, mitten in Buenos Aires. Ein gutes Viertel, die repräsentative Straße Libertator und der Parque de Palermo sind um die Ecke. Sie setzt sich vorsichtig, mißtraut den Rollen des Drehstuhls. Hinter ihr ein Computer, der Bildschirmschoner läßt die Worte »sin olvido«, »kein Vergessen«, über den Monitor wandern. 30.000 Menschen verschwanden in der Militärdiktatur von 1976 bis 1983, davon 1.900 Juden. Eine von ihnen ist Graciela.
»Jeden Nachmittag setzte sich Oma Ida in den gleichen Sessel und strickte ohne Pause. In einer Kiste sammelte sie die Stricksachen. Für den Tag, an dem Graciela wiederkommen würde«, sagt Matilde. Sie hätte nicht gedacht, daß sie Graciela niemals wiedersehen würde. Nicht einmal ihre Leiche. Es ist, als wolle Matilde zunächst ihre Tochter vorstellen, bevor das Gespräch beginnt. »Das ist Graciela«, sagt sie und zeigt auf ein Porträt in Schwarzweiß, das über dem Kaffeetisch hängt. Darauf zu sehen ist das Profil eines Mädchens Anfang zwanzig mit ebenmäßigen Zügen, die dunklen Haare hat es zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßt. »Da hat sie ein bißchen geschummelt«, sagt Matilde. »Damals war es modern, sich die Haare zu glätten.« Es ist das Foto, das sie sich um den Hals hängt, wenn sie demonstrieren geht.
Seit mehr als 1.500 Donnerstagen läuft Matilde mit den anderen Müttern um die Pyramide, die auf der Mitte der Plaza de Mayo vor dem rosafarbenen Regierungsgebäude in Buenos Aires steht. Immer um die gleiche Zeit. Zuerst waren es zwei, drei Frauen, die sich dort um 15 Uhr trafen. Matilde war eine von ihnen. »Aber leider verschwanden immer mehr Menschen, also kamen auch mehr Mütter. Ich habe meiner Familie damals verheimlicht, daß ich auf den Platz ging, sie hätten Angst gehabt«, sagt Matilde. Die Polizisten am Platz sagten: »Señoras, Sie können hier nicht bleiben, hier ist Versammlungsverbot!« Die einzige Lösung war, in Bewegung zu bleiben, und so entstand das Ritual, zu dem sich die Mütter noch heute jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo treffen: Sie drehen eine Runde nach der anderen um die Pyramide, dabei halten sie sich gegenseitig im Arm.
Einmal fuhr ein Mann in einem Auto vorbei und rief den Müttern zu: »Was wollt ihr? Sie sind tot!« »Aber wir machten weiter. Wir machten weiter, als die Junta abtrat. Als die Bulldozer alle Knochen in den Massengräbern zusammenschoben und unkenntlich machten. Als die Amnestiegesetze beschlossen wurden«, erzählt Matilde. Ihre Stimme klingt jetzt fest und bestimmt. »Ich habe mich so an unser Erkennungszeichen, das weiße Kopftuch, gewöhnt, daß ich mir es sogar zu Hause aufsetze, wenn ich an einem Donnerstag nicht auf den Platz kann, weil ich zu schwach bin.«
Ob es eine Rolle spielte, daß Graciela Jüdin war? »Sie haben sie nicht deshalb abgeholt, aber es machte alles noch schlimmer«, sagt Matilde. »Wenn ein Gefangener Jude war, wurde er härter gefoltert. Und erniedrigt: Es gab Zellen, in denen Hakenkreuze an die Wand gemalt waren und Lager, in denen die Gefangenen Nazitexte vorlesen mußten.« Das weiß sie aus Zeugenaussagen, wie sie auch der Journalist Jacobo Timerman hinterließ. Er schreibt in seinem Buch Prisoner without a name, cell without a number, daß die Themen Judentum und Zionismus fast alle Befragungs- und Foltersitzungen dominierten. Einmal hörte er, wie eine Frau während der Folter schwor, Katholikin zu sein. Doch die Militärs glaubten ihr nicht und machten weiter. Aber Timerman schreibt auch: »Die Foltern, die Elektroschocks an den Genitalien haben mich nicht erniedrigt. Was mich fertiggemacht hat, ist die schweigende Komplizenschaft der jüdischen Führungsschicht.«
»Die jüdischen Gemeinden haben mir nicht geholfen«, sagt auch Matilde Mellibovsky und gießt in einem kleinen Tässchen Instant-Kaffee auf. »Auch die israelische Botschaft wollte nichts mit uns zu tun haben. Sie sagten, unsere Kinder seien schließlich keine israelischen Staatsangehörigen. Erst vor ein paar Jahren hat sich diese Einstellung geändert, und jetzt werden wir dort empfangen.« Sie suchte auch Hilfe bei dem katholischen Pfarrer Graselli, der mit den Militärs zusammenarbeitete und versuchte, ihnen Informationen zuzuschustern, indem er die Angehörigen aushorchte. Aber der Pater hatte auch Möglichkeiten, etwas über den Verbleib von Verschleppten zu erfahren. Deshalb suchte Matilde den Kontakt zu ihm, doch sie wurde schon im Vorzimmer zurückgewiesen, weil ihr Name jüdisch klang. »Ich zeigte Gracielas Ausweis vor, die Männer deuteten auf ihren Nachnamen und lachten.«
Irgendwann fing Matilde an, Selbstgespräche zu führen. »Ich konnte doch mit niemandem sprechen, niemand wollte was damit zu tun haben, sogar der Anwalt hatte Angst, die richterliche Haftprüfung zu beantragen.« Lichtblick war ein Rabbiner. »Am Schabbat kamen Angehörige aller Glaubensrichtungen in die Synagoge Bet El, weil Marshall Meyer sich traute, die Verschwundenen nur zu erwähnen.« Matilde vermutet, daß Rabbiner Meyer nicht verhaftet wurde, weil er US-Bürger war.
Noch immer hofft Matilde, Spuren zu finden, die mehr über das Schicksal ihrer Tochter erzählen. Sie verlangt, daß die Akten geöffnet werden. »Die Militärs haben alles akribisch aufgezeichnet und noch immer keine Listen der Häftlinge in den einzelnen Lagern veröffentlicht. Das ist kein Problem aus der Vergangenheit. Wir wollen das gleiche, was von den US-Behörden in Guantanamo verlangt wird.«
Sie steht langsam auf, geht ins Wohnzimmer zu ihrem Mann Santiago. Der 88jährige betreibt eine Website (www.sinolvido.org), auf der er Fotos der Desaparecidos, der Verschwundenen, veröffentlicht. Mehr als 2.000 stehen schon im Netz, doch das ist nur ein kleiner Teil des Materials. Mehrere tausend Bilder sind noch nicht einmal gescannt. Santiago hat dafür gesorgt, daß nicht auch noch die Fotos der Verschwundenen verschwinden können. Geschützt vor Hitze, Feuer und Feuchtigkeit liegen 150 Meter unter der Erde in einer Salzmine in Südengland Sicherungskopien aller Bilder. Damit die Verschwundenen nicht auch noch vergessen werden.