Als er im Sommer 1937 von zwei Männern in SS-Uniform aus dem Klassenzimmer abgeholt und ohne Schulsachen aus dem vorderpfälzischen Haßloch nach Ludwigshafen gefahren wurde, wusste Erwin Rieger selbst nicht, wie ihm geschah. Noch weniger verstand er, warum er am nächsten Morgen auf einem Operationstisch landete, obwohl er sich komplett gesund fühlte. S
päter gab er zu den Akten, seine Mutter habe neben ihm gestanden und nur noch gesagt: »Sei ruhig, Kind, bleibe tapfer, bleibe brav.« Als Sohn einer Deutschen und eines französischen Kolonialsoldaten wurde der Schüler Opfer einer rassistisch motivierten Zwangssterilisation.
Die Schicksale der sogenannten »Rheinlandbastarde« sind eine eher unbekannte Facette der NS-Geschichte. »Das ist bisher nicht systematisch erforscht worden«, sagt Julia Tilentzidis, angehende Historikerin, die im Rahmen ihrer Bachelorarbeit an der Universität Mainz erstmals mit dem Thema in Berührung kam.
Schätzungsweise 600 bis 800 nach dem Ersten Weltkrieg geborene Kinder wurden Opfer der geheim gehaltenen Sterilisationskampagne, die selbst nach den Gesetzen des NS-Staates in den meisten Fällen illegal war. Zu wenigen Schicksalen gibt es umfangreiche Dokumente.
Verhörprotokolle Im Fall von Erwin Rieger, der bereits in den 1980er Jahren starb, wurde Tilentzidis im Landesarchiv Speyer fündig. Rieger hatte nämlich auf der Suche nach einer besseren Arbeit während des Zweiten Weltkriegs versucht, illegal die Grenze zum besetzten Frankreich zu überqueren und war dabei gefasst worden. In den Akten der Gestapo zu dem Fall fanden sich detaillierte Verhörprotokolle zu seinem Lebensweg. Außerdem kämpfte Rieger nach Kriegsende hartnäckig um eine angemessene Entschädigung. Auch die damals angefertigten Unterlagen konnte die Studentin einsehen.
Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg hatten französische Truppen die linksrheinischen Gebiete des Deutschen Reichs besetzt. Einen erheblichen Teil der Soldaten stellten Männer aus den französischen Kolonien - aus Nord- und Westafrika, aber auch aus Vietnam und anderen Regionen Asiens. Kurz nach dem Verlust der eigenen Kolonien empfanden nicht wenige Deutsche dies als schwere Demütigung.
Eine rassistische Kampagne gegen die »Schwarze Schmach« war die Folge, befeuert wurde sie längst nicht nur von rechtsradikalen Kreisen. Sogar der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert wetterte gegen die »Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher«.
Kindern der meist kurzzeitigen Liebesbeziehungen zwischen Rheinländerinnen und Kolonialsoldaten schlug bereits früh Feindseligkeit entgegen. Schon in den 1920er Jahren wurden spezielle Listen der »Rheinlandbastarde« angelegt, die den Nationalsozialisten später die Identifizierung erleichterten. Und bereits Beamte der Weimarer Republik prüften eine zwangsweise Sterilisation der Kinder, verwarfen die Idee aber.
Anerkennung Nach Hitlers Machtübernahme blieb die Lage der Besatzungskinder zunächst ambivalent. In Haßloch habe Erwin Rieger, dessen Vater wohl aus Marokko stammte, zunächst weitgehend unbehelligt die Schule besuchen können, er sei auch in das nationalsozialistische Jungvolk aufgenommen worden, berichtet Tilentzidis: »Allerdings wurde er mit 14 Jahren nicht in die Hitlerjugend übernommen.
«Selbst nach der vorgenommenen Sterilisation habe der Pfälzer um Anerkennung durch die von NS-Ideologie geprägte Gesellschaft gekämpft. Mehrmals meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, wurde als »Negermischling« jedoch aus »rassischen Gründen für wehrunwürdig« erklärt, wie aus den Verhörprotokollen hervorgeht.
Nach dem Krieg scheiterte der Pfälzer zunächst mit einem Antrag auf Entschädigungen für das ihm durch die Operation zugefügte körperliche und seelische Leid. Durch die Sterilisation sei der junge Mann ja nicht in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt, urteilten die für den Fall zuständigen Amtsärzte der jungen Bundesrepublik.
Das änderte sich erst, als Rieger das ausführliche Gutachten eines Heidelberger Mediziners beschaffen konnte. Ihm wurde eine Entschädigungsrente in Höhe von monatlich 159 D-Mark zugesprochen. In den meisten Fällen seien die Kinder der französischen Kolonialsoldaten gar nicht entschädigt worden, sagt Tilentzidis: »Die Opfer haben bis in die 1980er Jahre ein Schattendasein geführt.« epd