von Wladimir Struminski
In den meisten Ländern vermag das Geschehen am höchsten Gericht allenfalls einen kleinen Kreis von Juristen ernsthaft zu erregen. In Israel dagegen hat jedermann etwas dazu zu sagen. Kein Wunder, kommt doch dem Richtergremium eine andernorts unbekannte Machtfülle zu. Das Gericht ist nicht nur oberste Berufungsinstanz, sondern fungiert auch als eine Art Verfassungsgericht. Zudem darf jeder Bürger die Richter einschalten, wenn er sich von den Staatsorganen in seinen Rechten beeinträchtigt fühlt; das gilt übrigens auch für Palästinenser aus den besetzten Gebieten, wenngleich diese keine Israelis sind. So ist dem Obersten Gericht stets großes Interesse der Öffentlichkeit sicher: Fans wie Kritiker warten gespannt, was als nächstes passiert.
An diesem Donnerstag richten sich die Blicke des ganzen Landes in besonderem Maße auf das Gericht: Richterin Dorit Beinisch – bisher »einfaches« Mitglied des Gerichts – löst den mit Erreichen der Altersgrenze von 70 Jahren scheidenden Aharon Barak im Amt des Gerichtspräsidenten ab und übernimmt damit eines der wichtigsten Ämter im Staat. Zwar ist der Präsident kein Vorgesetzter seiner Kollegen, doch kann er seinen Einfluß höchst wirksam geltend machen.
Das hat der nach einer fast drei Jahrzehnte währenden Amtszeit als oberster Richter zu geradezu mythologischer Größe gewachsene Barak erfolgreich vorexerziert. Nach seinem Aufstieg zum Gerichtspräsidenten vor elf Jahren hat der brillante Jurist dem Obersten Gerichtshof bis dahin unbekannte Befugnisse verschafft. Barak glaubt, daß kein Thema außerhalb der Kompetenz des Obersten Gerichts liegt. Deshalb hat er die Bandbreite der vom Gericht zugelassenen Bürgerklagen gegen Vater Staat kräftig erweitert. Damit wurden die Richter zum machtvollsten Beschützer des »kleinen Mannes« im Kampf gegen die Selbstherrlichkeit der Regierung und eine gefühllose Bürokratie. Mehr als das: Die von der Knesset verabschiedeten sogenannten Grundgesetze zur Menschenwürde und zur Beschäftigungsfreiheit interpretierte Barak zu einer De-facto-Verfas-
sung um. Damit gab er den Gerichten die Befugnis, einfache Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, falls sie den beiden Grundgesetzen zuwiderliefen. Häufig wurde davon zwar nicht Gebrauch gemacht, doch mögen die Politiker das über ihren Köpfen hängende Damoklesschwert nicht. So etwa hat das Gericht vor vier Monaten die Tatsache, daß ultraorthodoxe Männer nicht zur Armee einberufen werden, als verfassungswidrig bezeichnet. Bis 2007 muß die Knesset für gesetzgeberische Abhilfe sorgen: Für Israels Politik ist das Sprengstoff.
Baraks »Verfassungsrevolution«, klagte der ehemalige Knessetvorsitzende Rubi Riwlin, sei antidemokratisch, weil sie die Befugnisse der Knesset auf unzulässige Weise einschränke und die Gewaltenteilung verwische. Kühl konterte Barak, die Knesset selbst habe den Grundgesetzen einen Sonderrang zuerkannt. Er habe sich nur danach gerichtet. Der Bürger müsse eben zuweilen vor dem Gesetzgeber in Schutz genommen werden.
Unter Beinisch, 64, verspricht das Gericht, die »aktivistische« Linie fortzusetzen und den Machthabern ein Dorn im Fleisch zu bleiben. Bereits im Amt der Generalstaatsanwältin hat sie sich in den neunziger Jahren einen Namen als unerschrockene Kämpferin gegen die Korruption ge-
macht. Unter anderem brachte sie einen der mächtigsten Männer des Landes, den damaligen Innenminister und Vorsitzenden der sefardisch-orthodoxen Schas-Partei, Arieh Deri, wegen Bestechlichkeit vor Gericht und hinter Gitter. Nach ihrer Ernennung zum Mitglied des Obersten Gerichtshofes erwies sie sich als streitbare Verfechterin der Menschenrechte. So etwa erlegte sie der israelischen Armee auf, bei militärischen Operationen Rechte der palästinensischen Bevölkerung in ausreichendem Maße zu schützen. In einem ihrer bekanntesten Urteile erklärte sie das Schlagen von Kindern – auch durch die Eltern – für rechtswidrig. Aus der Sicht liberaler Kreise bewies sie mit dieser und mit anderen Entscheidungen, etwa im Bereich der Frauenrechte, daß sie sich der Tradition des Obersten Gerichtes als Beschützer der Schwächeren verpflichtet fühlt. In ihren juristischen Ansichten steht Beinisch ihrem Vorgänger nahe. Allerdings wurde sie nicht deshalb, sondern als das dienstälteste Mitglied des Gerichts zu Baraks Nachfolgerin bestimmt. An Herausforderungen wird es ihr nicht mangeln.